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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

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"behält er in dem Herzen der Zuschauer die Vor-
"rechte der Menschlichkeit, als welche auch ei-
"nem unschuldig leidenden Gottlosen ihr Mit-
"leid nicht versagt." Aber er scheinet dieses
nicht genug überlegt zu haben. Denn auch
dann noch, wenn das Unglück, welches den
Bösewicht befällt, eine unmittelbare Folge sei-
nes Verbrechens ist, können wir uns nicht ent-
wehren, bey dem Anblicke dieses Unglücks mit
ihm zu leiden.

"Seht jene Menge, sagt der Verfasser der
Briefe über die Empfindungen, "die sich um
"einen Verurtheilten in dichte Haufen drenget.
"Sie haben alle Greuel vernommen, die der
"Lasterhafte begangen; sie haben seinen Wan-
"del, und vielleicht ihn selbst verabscheuet. Jtzt
"schleppt man ihn entstellt und ohnmächtig auf
"das entsetzliche Schaugerüste. Man arbeitet
"sich durch das Gewühl, man stellt sich auf die
"Zähen, man klettert die Dächer hinan, um
"die Züge des Todes sein Gesicht entstellen zu
"sehen. Sein Urtheil ist gesprochen; sein Hen-
"ker naht sich ihm; ein Augenblick wird sein
"Schicksal entscheiden. Wie sehnlich wünschen
"itzt aller Herzen, daß ihm verziehen würde!
"Jhm? dem Gegenstande ihres Abscheues, den
"sie einen Augenblick vorher selbst zum Tode
"verurtheilet haben würden? Wodurch wird
"itzt ein Strahl der Menschenliebe wiederum

"bey

„behält er in dem Herzen der Zuſchauer die Vor-
„rechte der Menſchlichkeit, als welche auch ei-
„nem unſchuldig leidenden Gottloſen ihr Mit-
„leid nicht verſagt.„ Aber er ſcheinet dieſes
nicht genug überlegt zu haben. Denn auch
dann noch, wenn das Unglück, welches den
Böſewicht befällt, eine unmittelbare Folge ſei-
nes Verbrechens iſt, können wir uns nicht ent-
wehren, bey dem Anblicke dieſes Unglücks mit
ihm zu leiden.

„Seht jene Menge, ſagt der Verfaſſer der
Briefe über die Empfindungen, „die ſich um
„einen Verurtheilten in dichte Haufen drenget.
„Sie haben alle Greuel vernommen, die der
„Laſterhafte begangen; ſie haben ſeinen Wan-
„del, und vielleicht ihn ſelbſt verabſcheuet. Jtzt
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„das entſetzliche Schaugerüſte. Man arbeitet
„ſich durch das Gewühl, man ſtellt ſich auf die
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„die Züge des Todes ſein Geſicht entſtellen zu
„ſehen. Sein Urtheil iſt geſprochen; ſein Hen-
„ker naht ſich ihm; ein Augenblick wird ſein
„Schickſal entſcheiden. Wie ſehnlich wünſchen
„itzt aller Herzen, daß ihm verziehen würde!
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[191/0197] „behält er in dem Herzen der Zuſchauer die Vor- „rechte der Menſchlichkeit, als welche auch ei- „nem unſchuldig leidenden Gottloſen ihr Mit- „leid nicht verſagt.„ Aber er ſcheinet dieſes nicht genug überlegt zu haben. Denn auch dann noch, wenn das Unglück, welches den Böſewicht befällt, eine unmittelbare Folge ſei- nes Verbrechens iſt, können wir uns nicht ent- wehren, bey dem Anblicke dieſes Unglücks mit ihm zu leiden. „Seht jene Menge, ſagt der Verfaſſer der Briefe über die Empfindungen, „die ſich um „einen Verurtheilten in dichte Haufen drenget. „Sie haben alle Greuel vernommen, die der „Laſterhafte begangen; ſie haben ſeinen Wan- „del, und vielleicht ihn ſelbſt verabſcheuet. Jtzt „ſchleppt man ihn entſtellt und ohnmächtig auf „das entſetzliche Schaugerüſte. Man arbeitet „ſich durch das Gewühl, man ſtellt ſich auf die „Zähen, man klettert die Dächer hinan, um „die Züge des Todes ſein Geſicht entſtellen zu „ſehen. Sein Urtheil iſt geſprochen; ſein Hen- „ker naht ſich ihm; ein Augenblick wird ſein „Schickſal entſcheiden. Wie ſehnlich wünſchen „itzt aller Herzen, daß ihm verziehen würde! „Jhm? dem Gegenſtande ihres Abſcheues, den „ſie einen Augenblick vorher ſelbſt zum Tode „verurtheilet haben würden? Wodurch wird „itzt ein Strahl der Menſchenliebe wiederum „bey

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/197>, abgerufen am 21.11.2024.