Den funfzigsten Abend (Freytags den 24ten Julius) ward Gressets Sidney wiederhohlt. Den Beschluß machte, der sehende Blinde.
Dieses kleine Stück ist vom Le Grand, und auch nicht von ihm. Denn er hat Titel und Jn- trigue und alles, einem alten Stücke des de Bros- se abgeborgt. Ein Officier, schon etwas bey Jahren, will eine junge Wittwe heyrathen, in die er verliebt ist, als er Ordre bekömmt, sich zur Armee zu verfügen. Er verläßt sein Ver- sprochene, mit den wechselseitigen Versicherungen der aufrichtigsten Zärtlichkeit. Kaum aber ist er weg, so nimmt die Wittwe die Aufwartun- gen des Sohnes von diesem Officiere an. Die Tochter desselben macht sich gleichergestalt die Abwesenheit ihres Vaters zu Nutze, und nimmt einen jungen Menschen, den sie liebt, im Hause auf. Diese doppelte Jntrigue wird dem Vater gemeldet, der, um sich selbst davon zu überzeugen, ihnen schreiben läßt, daß er sein Gesicht verlohren habe. Die List gelingt; er kömmt wieder nach Paris, und mit Hülfe eines Bedienten, der um den Betrug weiß, sieht er alles, was in seinem Hause vorgeht. Die Ent- wicklung läßt sich errathen; da der Officier an der Unbeständigkeit der Wittwe nicht länger zweifeln kann, so erlaubt er seinem Sohne, sie zu heyrathen, und der Tochter giebt er die nehm- liche Erlaubniß, sich mit ihrem Geliebten zu ver-
bin-
Den funfzigſten Abend (Freytags den 24ten Julius) ward Greſſets Sidney wiederhohlt. Den Beſchluß machte, der ſehende Blinde.
Dieſes kleine Stück iſt vom Le Grand, und auch nicht von ihm. Denn er hat Titel und Jn- trigue und alles, einem alten Stücke des de Broſ- ſe abgeborgt. Ein Officier, ſchon etwas bey Jahren, will eine junge Wittwe heyrathen, in die er verliebt iſt, als er Ordre bekömmt, ſich zur Armee zu verfügen. Er verläßt ſein Ver- ſprochene, mit den wechſelſeitigen Verſicherungen der aufrichtigſten Zärtlichkeit. Kaum aber iſt er weg, ſo nimmt die Wittwe die Aufwartun- gen des Sohnes von dieſem Officiere an. Die Tochter deſſelben macht ſich gleichergeſtalt die Abweſenheit ihres Vaters zu Nutze, und nimmt einen jungen Menſchen, den ſie liebt, im Hauſe auf. Dieſe doppelte Jntrigue wird dem Vater gemeldet, der, um ſich ſelbſt davon zu überzeugen, ihnen ſchreiben läßt, daß er ſein Geſicht verlohren habe. Die Liſt gelingt; er kömmt wieder nach Paris, und mit Hülfe eines Bedienten, der um den Betrug weiß, ſieht er alles, was in ſeinem Hauſe vorgeht. Die Ent- wicklung läßt ſich errathen; da der Officier an der Unbeſtändigkeit der Wittwe nicht länger zweifeln kann, ſo erlaubt er ſeinem Sohne, ſie zu heyrathen, und der Tochter giebt er die nehm- liche Erlaubniß, ſich mit ihrem Geliebten zu ver-
bin-
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0253"n="247"/><p>Den funfzigſten Abend (Freytags den 24ten<lb/>
Julius) ward Greſſets Sidney wiederhohlt.<lb/>
Den Beſchluß machte, der ſehende Blinde.</p><lb/><p>Dieſes kleine Stück iſt vom Le Grand, und<lb/>
auch nicht von ihm. Denn er hat Titel und Jn-<lb/>
trigue und alles, einem alten Stücke des de Broſ-<lb/>ſe abgeborgt. Ein Officier, ſchon etwas bey<lb/>
Jahren, will eine junge Wittwe heyrathen, in<lb/>
die er verliebt iſt, als er Ordre bekömmt, ſich<lb/>
zur Armee zu verfügen. Er verläßt ſein Ver-<lb/>ſprochene, mit den wechſelſeitigen Verſicherungen<lb/>
der aufrichtigſten Zärtlichkeit. Kaum aber iſt<lb/>
er weg, ſo nimmt die Wittwe die Aufwartun-<lb/>
gen des Sohnes von dieſem Officiere an. Die<lb/>
Tochter deſſelben macht ſich gleichergeſtalt die<lb/>
Abweſenheit ihres Vaters zu Nutze, und<lb/>
nimmt einen jungen Menſchen, den ſie liebt,<lb/>
im Hauſe auf. Dieſe doppelte Jntrigue wird<lb/>
dem Vater gemeldet, der, um ſich ſelbſt davon<lb/>
zu überzeugen, ihnen ſchreiben läßt, daß er ſein<lb/>
Geſicht verlohren habe. Die Liſt gelingt; er<lb/>
kömmt wieder nach Paris, und mit Hülfe eines<lb/>
Bedienten, der um den Betrug weiß, ſieht er<lb/>
alles, was in ſeinem Hauſe vorgeht. Die Ent-<lb/>
wicklung läßt ſich errathen; da der Officier an<lb/>
der Unbeſtändigkeit der Wittwe nicht länger<lb/>
zweifeln kann, ſo erlaubt er ſeinem Sohne, ſie<lb/>
zu heyrathen, und der Tochter giebt er die nehm-<lb/>
liche Erlaubniß, ſich mit ihrem Geliebten zu ver-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">bin-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[247/0253]
Den funfzigſten Abend (Freytags den 24ten
Julius) ward Greſſets Sidney wiederhohlt.
Den Beſchluß machte, der ſehende Blinde.
Dieſes kleine Stück iſt vom Le Grand, und
auch nicht von ihm. Denn er hat Titel und Jn-
trigue und alles, einem alten Stücke des de Broſ-
ſe abgeborgt. Ein Officier, ſchon etwas bey
Jahren, will eine junge Wittwe heyrathen, in
die er verliebt iſt, als er Ordre bekömmt, ſich
zur Armee zu verfügen. Er verläßt ſein Ver-
ſprochene, mit den wechſelſeitigen Verſicherungen
der aufrichtigſten Zärtlichkeit. Kaum aber iſt
er weg, ſo nimmt die Wittwe die Aufwartun-
gen des Sohnes von dieſem Officiere an. Die
Tochter deſſelben macht ſich gleichergeſtalt die
Abweſenheit ihres Vaters zu Nutze, und
nimmt einen jungen Menſchen, den ſie liebt,
im Hauſe auf. Dieſe doppelte Jntrigue wird
dem Vater gemeldet, der, um ſich ſelbſt davon
zu überzeugen, ihnen ſchreiben läßt, daß er ſein
Geſicht verlohren habe. Die Liſt gelingt; er
kömmt wieder nach Paris, und mit Hülfe eines
Bedienten, der um den Betrug weiß, ſieht er
alles, was in ſeinem Hauſe vorgeht. Die Ent-
wicklung läßt ſich errathen; da der Officier an
der Unbeſtändigkeit der Wittwe nicht länger
zweifeln kann, ſo erlaubt er ſeinem Sohne, ſie
zu heyrathen, und der Tochter giebt er die nehm-
liche Erlaubniß, ſich mit ihrem Geliebten zu ver-
bin-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/253>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.