gulus, Cato, Brutus zu verbinden gewohnt sind, die Ursache, warum der tragische Dichter seinen Personen diese Namen ertheilet. Er führt einen Regulus, einen Brutus auf, nicht um uns mit den wirklichen Begegnissen dieser Män- ner bekannt zu machen, nicht um das Gedächt- niß derselben zu erneuern: sondern um uns mit solchen Begegnissen zu unterhalten, die Män- nern von ihrem Charakter überhaupt begegnen können und müssen. Nun ist zwar wahr, daß wir diesen ihren Charakter aus ihren wirklichen Begegnissen abstrahiret haben: es folgt aber doch daraus nicht, daß uns auch ihr Charakter wieder auf ihre Begegnisse zurückführen müsse; er kann uns nicht selten weit kürzer, weit natür- licher auf ganz andere bringen, mit welchen jene wirkliche weiter nichts gemein haben, als daß sie mit ihnen aus einer Quelle, aber auf unzu- verfolgenden Umwegen und über Erdstriche her- geflossen sind, welche ihre Lauterheit verdorben haben. Jn diesem Falle wird der Poet jene er- fundene den wirklichen schlechterdings vorzie- hen, aber den Personen noch immer die wahren Namen lassen. Und zwar aus einer doppelten Ursache: einmal, weil wir schon gewohnt sind, bey diesen Namen einen Charakter zu denken, wie er ihn in seiner Allgemeinheit zeiget; zwey- tens, weil wirklichen Namen auch wirkliche Begebenheiten anzuhängen scheinen, und alles,
was
gulus, Cato, Brutus zu verbinden gewohnt ſind, die Urſache, warum der tragiſche Dichter ſeinen Perſonen dieſe Namen ertheilet. Er führt einen Regulus, einen Brutus auf, nicht um uns mit den wirklichen Begegniſſen dieſer Män- ner bekannt zu machen, nicht um das Gedächt- niß derſelben zu erneuern: ſondern um uns mit ſolchen Begegniſſen zu unterhalten, die Män- nern von ihrem Charakter überhaupt begegnen können und müſſen. Nun iſt zwar wahr, daß wir dieſen ihren Charakter aus ihren wirklichen Begegniſſen abſtrahiret haben: es folgt aber doch daraus nicht, daß uns auch ihr Charakter wieder auf ihre Begegniſſe zurückführen müſſe; er kann uns nicht ſelten weit kürzer, weit natür- licher auf ganz andere bringen, mit welchen jene wirkliche weiter nichts gemein haben, als daß ſie mit ihnen aus einer Quelle, aber auf unzu- verfolgenden Umwegen und über Erdſtriche her- gefloſſen ſind, welche ihre Lauterheit verdorben haben. Jn dieſem Falle wird der Poet jene er- fundene den wirklichen ſchlechterdings vorzie- hen, aber den Perſonen noch immer die wahren Namen laſſen. Und zwar aus einer doppelten Urſache: einmal, weil wir ſchon gewohnt ſind, bey dieſen Namen einen Charakter zu denken, wie er ihn in ſeiner Allgemeinheit zeiget; zwey- tens, weil wirklichen Namen auch wirkliche Begebenheiten anzuhängen ſcheinen, und alles,
was
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0317"n="311"/>
gulus, Cato, Brutus zu verbinden gewohnt<lb/>ſind, die Urſache, warum der tragiſche Dichter<lb/>ſeinen Perſonen dieſe Namen ertheilet. Er führt<lb/>
einen Regulus, einen Brutus auf, nicht um<lb/>
uns mit den wirklichen Begegniſſen dieſer Män-<lb/>
ner bekannt zu machen, nicht um das Gedächt-<lb/>
niß derſelben zu erneuern: ſondern um uns mit<lb/>ſolchen Begegniſſen zu unterhalten, die Män-<lb/>
nern von ihrem Charakter überhaupt begegnen<lb/>
können und müſſen. Nun iſt zwar wahr, daß<lb/>
wir dieſen ihren Charakter aus ihren wirklichen<lb/>
Begegniſſen abſtrahiret haben: es folgt aber<lb/>
doch daraus nicht, daß uns auch ihr Charakter<lb/>
wieder auf ihre Begegniſſe zurückführen müſſe;<lb/>
er kann uns nicht ſelten weit kürzer, weit natür-<lb/>
licher auf ganz andere bringen, mit welchen jene<lb/>
wirkliche weiter nichts gemein haben, als daß<lb/>ſie mit ihnen aus einer Quelle, aber auf unzu-<lb/>
verfolgenden Umwegen und über Erdſtriche her-<lb/>
gefloſſen ſind, welche ihre Lauterheit verdorben<lb/>
haben. Jn dieſem Falle wird der Poet jene er-<lb/>
fundene den wirklichen ſchlechterdings vorzie-<lb/>
hen, aber den Perſonen noch immer die wahren<lb/>
Namen laſſen. Und zwar aus einer doppelten<lb/>
Urſache: einmal, weil wir ſchon gewohnt ſind,<lb/>
bey dieſen Namen einen Charakter zu denken,<lb/>
wie er ihn in ſeiner Allgemeinheit zeiget; zwey-<lb/>
tens, weil wirklichen Namen auch wirkliche<lb/>
Begebenheiten anzuhängen ſcheinen, und alles,<lb/><fwplace="bottom"type="catch">was</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[311/0317]
gulus, Cato, Brutus zu verbinden gewohnt
ſind, die Urſache, warum der tragiſche Dichter
ſeinen Perſonen dieſe Namen ertheilet. Er führt
einen Regulus, einen Brutus auf, nicht um
uns mit den wirklichen Begegniſſen dieſer Män-
ner bekannt zu machen, nicht um das Gedächt-
niß derſelben zu erneuern: ſondern um uns mit
ſolchen Begegniſſen zu unterhalten, die Män-
nern von ihrem Charakter überhaupt begegnen
können und müſſen. Nun iſt zwar wahr, daß
wir dieſen ihren Charakter aus ihren wirklichen
Begegniſſen abſtrahiret haben: es folgt aber
doch daraus nicht, daß uns auch ihr Charakter
wieder auf ihre Begegniſſe zurückführen müſſe;
er kann uns nicht ſelten weit kürzer, weit natür-
licher auf ganz andere bringen, mit welchen jene
wirkliche weiter nichts gemein haben, als daß
ſie mit ihnen aus einer Quelle, aber auf unzu-
verfolgenden Umwegen und über Erdſtriche her-
gefloſſen ſind, welche ihre Lauterheit verdorben
haben. Jn dieſem Falle wird der Poet jene er-
fundene den wirklichen ſchlechterdings vorzie-
hen, aber den Perſonen noch immer die wahren
Namen laſſen. Und zwar aus einer doppelten
Urſache: einmal, weil wir ſchon gewohnt ſind,
bey dieſen Namen einen Charakter zu denken,
wie er ihn in ſeiner Allgemeinheit zeiget; zwey-
tens, weil wirklichen Namen auch wirkliche
Begebenheiten anzuhängen ſcheinen, und alles,
was
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/317>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.