"ausdrücken darf, ohne daß ein Mann, der mit "dem menschlichen Geschlechte und mit den Wir- "kungen der Leidenschaften im Ganzen bekannt "ist, dabey ausrufen kann: das ist unwahr- "scheinlich? Dieses auszumachen, wird die "abstrakte Theorie von wenig Nutzen seyn. So "gar eine nur mäßige Bekanntschaft mit dem "wirklichen Leben, ist hier nicht hinlänglich uns "zu leiten. Man kann eine Menge Jndividua "bemerkt haben, welche den Poeten, der den "Ausdruck eines solchen Grolles bis auf das "Aeußerste getrieben hätte, zu rechtfertigen "scheinen. Selbst die Geschichte dürfte viel- "leicht Exempel an die Hand geben, wo eine "tugendhafte Erbitterung auch wohl noch weiter "getrieben worden, als es der Dichter hier vor- "gestellet. Welches sind denn nun also die ei- "gentlichen Grenzen derselben, und wodurch "sind sie zu bestimmen? Einzig und allein durch "Bemerkung so vieler einzeln Fälle als möglich; "einzig und allein vermittelst der ausgebreitesten "Kenntniß, wie viel eine solche Erbitterung "über dergleichen Charaktere unter dergleichen "Umständen, im wirklichen Leben gewöhnli- "cher Weise vermag. So verschieden diese "Kenntniß in Ansehung ihres Umfanges ist, so "verschieden wird denn auch die Art der Vor- "stellung seyn. Und nun wollen wir sehen, wie "der vorhabende Charakter von dem Euripides "wirklich behandelt worden.
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„ausdrücken darf, ohne daß ein Mann, der mit „dem menſchlichen Geſchlechte und mit den Wir- „kungen der Leidenſchaften im Ganzen bekannt „iſt, dabey ausrufen kann: das iſt unwahr- „ſcheinlich? Dieſes auszumachen, wird die „abſtrakte Theorie von wenig Nutzen ſeyn. So „gar eine nur mäßige Bekanntſchaft mit dem „wirklichen Leben, iſt hier nicht hinlänglich uns „zu leiten. Man kann eine Menge Jndividua „bemerkt haben, welche den Poeten, der den „Ausdruck eines ſolchen Grolles bis auf das „Aeußerſte getrieben hätte, zu rechtfertigen „ſcheinen. Selbſt die Geſchichte dürfte viel- „leicht Exempel an die Hand geben, wo eine „tugendhafte Erbitterung auch wohl noch weiter „getrieben worden, als es der Dichter hier vor- „geſtellet. Welches ſind denn nun alſo die ei- „gentlichen Grenzen derſelben, und wodurch „ſind ſie zu beſtimmen? Einzig und allein durch „Bemerkung ſo vieler einzeln Fälle als möglich; „einzig und allein vermittelſt der ausgebreiteſten „Kenntniß, wie viel eine ſolche Erbitterung „über dergleichen Charaktere unter dergleichen „Umſtänden, im wirklichen Leben gewöhnli- „cher Weiſe vermag. So verſchieden dieſe „Kenntniß in Anſehung ihres Umfanges iſt, ſo „verſchieden wird denn auch die Art der Vor- „ſtellung ſeyn. Und nun wollen wir ſehen, wie „der vorhabende Charakter von dem Euripides „wirklich behandelt worden.
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„ausdrücken darf, ohne daß ein Mann, der mit
„dem menſchlichen Geſchlechte und mit den Wir-
„kungen der Leidenſchaften im Ganzen bekannt
„iſt, dabey ausrufen kann: das iſt unwahr-
„ſcheinlich? Dieſes auszumachen, wird die
„abſtrakte Theorie von wenig Nutzen ſeyn. So
„gar eine nur mäßige Bekanntſchaft mit dem
„wirklichen Leben, iſt hier nicht hinlänglich uns
„zu leiten. Man kann eine Menge Jndividua
„bemerkt haben, welche den Poeten, der den
„Ausdruck eines ſolchen Grolles bis auf das
„Aeußerſte getrieben hätte, zu rechtfertigen
„ſcheinen. Selbſt die Geſchichte dürfte viel-
„leicht Exempel an die Hand geben, wo eine
„tugendhafte Erbitterung auch wohl noch weiter
„getrieben worden, als es der Dichter hier vor-
„geſtellet. Welches ſind denn nun alſo die ei-
„gentlichen Grenzen derſelben, und wodurch
„ſind ſie zu beſtimmen? Einzig und allein durch
„Bemerkung ſo vieler einzeln Fälle als möglich;
„einzig und allein vermittelſt der ausgebreiteſten
„Kenntniß, wie viel eine ſolche Erbitterung
„über dergleichen Charaktere unter dergleichen
„Umſtänden, im wirklichen Leben gewöhnli-
„cher Weiſe vermag. So verſchieden dieſe
„Kenntniß in Anſehung ihres Umfanges iſt, ſo
„verſchieden wird denn auch die Art der Vor-
„ſtellung ſeyn. Und nun wollen wir ſehen, wie
„der vorhabende Charakter von dem Euripides
„wirklich behandelt worden.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/344>, abgerufen am 21.11.2024.
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