"Jch will gern des Todes seyn, so- "bald ich meine Mutter umge- "bracht habe!
"Nun kann man nicht behaupten, daß diese "letzte Rede schlechterdings unnatürlich sey. "Ohne Zweifel haben sich Beyspiele genug er- "äugnet, wo unter ähnlichen Umständen die "Rache sich eben so heftig ausgedrückt hat. "Gleichwohl, denke ich, kann uns die Härte "dieses Ausdrucks nicht anders als ein wenig "beleidigen. Zum mindesten hielt Sophokles "nicht für gut, ihn so weit zu treiben. Bey "ihm sagt Elektra unter gleichen Umständen nur "das: Jetzt sey dir die Ausführung "überlassen! Wäre ich aber allein ge- "blieben, so glaube mir nur: beides "hätte mir gewiß nicht mißlingen sol- "len; entweder mit Ehren mich zu be- "freyen, oder mit Ehren zu sterben!
"Ob nun diese Vorstellung des Sophokles "der Wahrheit, in so fern sie aus einer aus- "gebreitetern Erfahrung, d. i. aus der Kennt- "niß der menschlichen Natur überhaupt, gesam- "melt worden, nicht weit gemäßer ist, als die "Vorstellung des Euripides, will ich denen zu "beurtheilen überlassen, die es zu beurtheilen
"fähig
„Das Griechiſche iſt noch ſtärker:
„Θανοιμι, μητϱος αἱμ᾽ ἐπισϕαξασ᾽ ἐμης.
„Jch will gern des Todes ſeyn, ſo- „bald ich meine Mutter umge- „bracht habe!
„Nun kann man nicht behaupten, daß dieſe „letzte Rede ſchlechterdings unnatürlich ſey. „Ohne Zweifel haben ſich Beyſpiele genug er- „äugnet, wo unter ähnlichen Umſtänden die „Rache ſich eben ſo heftig ausgedrückt hat. „Gleichwohl, denke ich, kann uns die Härte „dieſes Ausdrucks nicht anders als ein wenig „beleidigen. Zum mindeſten hielt Sophokles „nicht für gut, ihn ſo weit zu treiben. Bey „ihm ſagt Elektra unter gleichen Umſtänden nur „das: Jetzt ſey dir die Ausführung „überlaſſen! Wäre ich aber allein ge- „blieben, ſo glaube mir nur: beides „hätte mir gewiß nicht mißlingen ſol- „len; entweder mit Ehren mich zu be- „freyen, oder mit Ehren zu ſterben!
„Ob nun dieſe Vorſtellung des Sophokles „der Wahrheit, in ſo fern ſie aus einer aus- „gebreitetern Erfahrung, d. i. aus der Kennt- „niß der menſchlichen Natur überhaupt, geſam- „melt worden, nicht weit gemäßer iſt, als die „Vorſtellung des Euripides, will ich denen zu „beurtheilen überlaſſen, die es zu beurtheilen
„fähig
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0346"n="340"/><p>„Das Griechiſche iſt noch ſtärker:</p><lb/><p>„Θανοιμι, μητϱοςαἱμ᾽ἐπισϕαξασ᾽ἐμης.</p><lb/><list><item>„<hirendition="#g">Jch will gern des Todes ſeyn, ſo-<lb/>„bald ich meine Mutter umge-<lb/>„bracht habe</hi>!</item></list><lb/><p>„Nun kann man nicht behaupten, daß dieſe<lb/>„letzte Rede ſchlechterdings unnatürlich ſey.<lb/>„Ohne Zweifel haben ſich Beyſpiele genug er-<lb/>„äugnet, wo unter ähnlichen Umſtänden die<lb/>„Rache ſich eben ſo heftig ausgedrückt hat.<lb/>„Gleichwohl, denke ich, kann uns die Härte<lb/>„dieſes Ausdrucks nicht anders als ein wenig<lb/>„beleidigen. Zum mindeſten hielt Sophokles<lb/>„nicht für gut, ihn ſo weit zu treiben. Bey<lb/>„ihm ſagt Elektra unter gleichen Umſtänden nur<lb/>„das: <hirendition="#g">Jetzt ſey dir die Ausführung<lb/>„überlaſſen! Wäre ich aber allein ge-<lb/>„blieben, ſo glaube mir nur: beides<lb/>„hätte mir gewiß nicht mißlingen ſol-<lb/>„len; entweder mit Ehren mich zu be-<lb/>„freyen, oder mit Ehren zu ſterben</hi>!</p><lb/><p>„Ob nun dieſe Vorſtellung des Sophokles<lb/>„der <hirendition="#g">Wahrheit</hi>, in ſo fern ſie aus einer aus-<lb/>„gebreitetern Erfahrung, d. i. aus der Kennt-<lb/>„niß der menſchlichen Natur überhaupt, geſam-<lb/>„melt worden, nicht weit gemäßer iſt, als die<lb/>„Vorſtellung des Euripides, will ich denen zu<lb/>„beurtheilen überlaſſen, die es zu beurtheilen<lb/><fwplace="bottom"type="catch">„fähig</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[340/0346]
„Das Griechiſche iſt noch ſtärker:
„Θανοιμι, μητϱος αἱμ᾽ ἐπισϕαξασ᾽ ἐμης.
„Jch will gern des Todes ſeyn, ſo-
„bald ich meine Mutter umge-
„bracht habe!
„Nun kann man nicht behaupten, daß dieſe
„letzte Rede ſchlechterdings unnatürlich ſey.
„Ohne Zweifel haben ſich Beyſpiele genug er-
„äugnet, wo unter ähnlichen Umſtänden die
„Rache ſich eben ſo heftig ausgedrückt hat.
„Gleichwohl, denke ich, kann uns die Härte
„dieſes Ausdrucks nicht anders als ein wenig
„beleidigen. Zum mindeſten hielt Sophokles
„nicht für gut, ihn ſo weit zu treiben. Bey
„ihm ſagt Elektra unter gleichen Umſtänden nur
„das: Jetzt ſey dir die Ausführung
„überlaſſen! Wäre ich aber allein ge-
„blieben, ſo glaube mir nur: beides
„hätte mir gewiß nicht mißlingen ſol-
„len; entweder mit Ehren mich zu be-
„freyen, oder mit Ehren zu ſterben!
„Ob nun dieſe Vorſtellung des Sophokles
„der Wahrheit, in ſo fern ſie aus einer aus-
„gebreitetern Erfahrung, d. i. aus der Kennt-
„niß der menſchlichen Natur überhaupt, geſam-
„melt worden, nicht weit gemäßer iſt, als die
„Vorſtellung des Euripides, will ich denen zu
„beurtheilen überlaſſen, die es zu beurtheilen
„fähig
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/346>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.