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[Lettus, Henricus]: Der Liefländischen Chronik Andrer Theil. Halle (Saale), 1753.

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Bisch. Nicolaus. zur Zeit der Regierung des Volquin.
grosse Hungersnoth gewesen seyn, daß ein Mensch den andern gefressen, und der1233
Diebe am Galgen nicht geschonet worden.

Der semgallische Bischof Balduin bezeuget, daß im vorhergehenden1234
Jahr der Vogt, die Bürgermeister und ganze Bürgerschaft zu Riga ihm ihr An-
theil und Recht auf Curland und Semgallen samt 70 ihrer Lehnsleute abge-
treten, dagegen er ihnen auf erhaltene päpstl. Volmacht, auf den Fus des mit
dem vorigen Bischof Lambert in Semgallen getroffenen Vergleichs, die
Grenzen ihrer Stadt ansehnlich erweitert.

Auf Ansuchen der Schwerdtritter w) sandte endlich der Hochmeister Her-1235
man von Salze, 2 deutsche Ordensritter nach Liefland, nemlich den
Comtur zu Altenburg, Ehrenfried von Neuenburg, und den Comtur zu
Negelstädt, Arnold von Dorf oder Neuendorf, die von dem Verhalten
der Schwerdtbrüder nähere Nachricht einziehen solten. Die Gesandten musten
wegen des frühen Winters ihre Rückreise bis aufs Frühjahr verschieben.

Sie reiseten so dann, so bald das Wasser aufgegangen, ab, und der Ordens-1236
meister Volquin gab ihnen 3 von seinen Ordensbrüdern mit, nemlich den Vogt
zu Wenden, Erdmund oder Reimund; den Ordensmarschal Joh. Sa-
linger
und Joh. von Meydeburg. Der Vicemeister, Ludwig von Oet-
tingen,
nahm sie zu Marpurg in Empfang, bey welchem ersten Gehör sich 70

deut-
w) Diese Einverleibung des Schwerdträgerordens in den deutschen Orden, war desto
nöthiger, je frühzeitiger die Herschsucht und der Eigennutz die neuen Eroberer Lieflan-
des
*) in der Eintracht und Verträglichkeit störte. Arnold von Lübeck, welcher
doch schon 1209 seine Historie endiget, beschreibet uns Chron. Slav. lib. VII, c. IX, §. 11
den innerlichen Grol und das wunderliche Gezänke, da die Brüder über das dritte
Theil des bezwungenen Heidenthums sich einen Bischof ausgebeten, mit welchem Gesuch
sie aber bey dem Bischof Albert sowol, als am päpstlichen Hofe, abgewiesen worden.
Was hatte Papst Jnnocentius nicht immer zu ermahnen, daß die Ordensbrüder der
Geistlichkeit nicht Verdrus machten, und die Waffen ihrer Ritterschaft nicht gegen
Christum, das ist, den Bischof brauchen solten? Er erinnert sie, die Kriege des HErrn
in der Macht götlicher Stärke zu führen, mit Bedeuten, der Papst werde es an seiner
Hülfe nicht fehlen lassen, wenn GOtt und er sehen würden, was ihnen nöthig sey.
Siehe Innocent. libr. XIV, epist. 149, t. 2, p. 580. Ja die Schwäche der neuen
Republic schien diese Verbindung mit einem mächtigern Orden zu erfordern. Die Be-
gierde um eines kahlen Ablasbriefes wegen zu fechten, verlor sich almälig; und wer in
Deutschland Vergebung der Sünden und ein fettes Landgut hatte, blieb lieber zu Hau-
se, als daß er sich in Liefland von den Heiden oder in Palästina von den Sarace-
nen
tod schlagen lies. Diese Wenigkeit der ankommenden Pilger, unter denen sich
der Bischof doch immer die besten auslas, reichte nicht zu, Liefland gegen die Dä-
nen, Russen, Litthauer,
ja wol gar künftig gegen den benachbarten deutschen
Orden zu schützen. Ueber dem reitzten die ansehnlichen Vorrechte des deutschen Or-
dens, die sie vom Kaiser| Friedrich erhalten, die Liefländer stark; wozu man des klu-
gen Bischof Alberts Tod auch mit rechnen kan, wodurch der Orden gleichsam zum Waisen
geworden. Wer diese Ursachen erweget, wird leicht die Nothwendigkeit gewahr wer-
den, warum die Liefländer diese mächtige Verbindung suchen müssen.
*) Liefland begreift im weitern Verstande Estland mit in sich, in welcher Bedeutung es die Auslän-
der oft gebrauchen, als Raynald t. 13, p. 445: Arcis Reualiae in Liuonia sitae. Zur Zeit des
Ordens gehörte Curland mit dazu, welches die Meister so wenig in ihrem Titel benanten, als
Estland, indem sie unter dem Namen eines Meisters von Liefland, das ganze Curland und
Estland mit begriffen. Jn diesem Verstande rechnen auch noch die polnischen Revisionsherren
1599 Liefland von Narva an bis an Memel auf 100 Meilen. Heutiges Tages begreift es den
rigischen, wendenschen, pernauischen und dörptischen Kreis in sich, in deren beiden ersten
die lettische, in den beiden andern aber die estnische Sprache geredet wird. Das alte Ug-
gannien,
oder das Dörptische nennen die Letten Jggaune Semme. Es fält jetzo den Ohren
unerträglich Reualia-Liuenus zu schreiben; ob es gleich nicht ungeschickt ist, die in diesen bei-
den Provinzen befindlichen Ausländer und Deutsche Livonos zu betiteln, da die Nation des
Landes Liuones und Esthones heissen, wie man etwan Liven, Esten und Letten spricht,
durch Liefländer aber nur diejenigen verstehet, welche sonderlich aus Deutschland als Coloni-
sten Liefland besetzet, und sich einen Pflanzort, durch den Degen oder andre Mittel, zu wege ge-
bracht.
J 2

Biſch. Nicolaus. zur Zeit der Regierung des Volquin.
groſſe Hungersnoth geweſen ſeyn, daß ein Menſch den andern gefreſſen, und der1233
Diebe am Galgen nicht geſchonet worden.

Der ſemgalliſche Biſchof Balduin bezeuget, daß im vorhergehenden1234
Jahr der Vogt, die Buͤrgermeiſter und ganze Buͤrgerſchaft zu Riga ihm ihr An-
theil und Recht auf Curland und Semgallen ſamt 70 ihrer Lehnsleute abge-
treten, dagegen er ihnen auf erhaltene paͤpſtl. Volmacht, auf den Fus des mit
dem vorigen Biſchof Lambert in Semgallen getroffenen Vergleichs, die
Grenzen ihrer Stadt anſehnlich erweitert.

Auf Anſuchen der Schwerdtritter w) ſandte endlich der Hochmeiſter Her-1235
man von Salze, 2 deutſche Ordensritter nach Liefland, nemlich den
Comtur zu Altenburg, Ehrenfried von Neuenburg, und den Comtur zu
Negelſtaͤdt, Arnold von Dorf oder Neuendorf, die von dem Verhalten
der Schwerdtbruͤder naͤhere Nachricht einziehen ſolten. Die Geſandten muſten
wegen des fruͤhen Winters ihre Ruͤckreiſe bis aufs Fruͤhjahr verſchieben.

Sie reiſeten ſo dann, ſo bald das Waſſer aufgegangen, ab, und der Ordens-1236
meiſter Volquin gab ihnen 3 von ſeinen Ordensbruͤdern mit, nemlich den Vogt
zu Wenden, Erdmund oder Reimund; den Ordensmarſchal Joh. Sa-
linger
und Joh. von Meydeburg. Der Vicemeiſter, Ludwig von Oet-
tingen,
nahm ſie zu Marpurg in Empfang, bey welchem erſten Gehoͤr ſich 70

deut-
w) Dieſe Einverleibung des Schwerdtraͤgerordens in den deutſchen Orden, war deſto
noͤthiger, je fruͤhzeitiger die Herſchſucht und der Eigennutz die neuen Eroberer Lieflan-
des
*) in der Eintracht und Vertraͤglichkeit ſtoͤrte. Arnold von Luͤbeck, welcher
doch ſchon 1209 ſeine Hiſtorie endiget, beſchreibet uns Chron. Slav. lib. VII, c. IX, §. 11
den innerlichen Grol und das wunderliche Gezaͤnke, da die Bruͤder uͤber das dritte
Theil des bezwungenen Heidenthums ſich einen Biſchof ausgebeten, mit welchem Geſuch
ſie aber bey dem Biſchof Albert ſowol, als am paͤpſtlichen Hofe, abgewieſen worden.
Was hatte Papſt Jnnocentius nicht immer zu ermahnen, daß die Ordensbruͤder der
Geiſtlichkeit nicht Verdrus machten, und die Waffen ihrer Ritterſchaft nicht gegen
Chriſtum, das iſt, den Biſchof brauchen ſolten? Er erinnert ſie, die Kriege des HErrn
in der Macht goͤtlicher Staͤrke zu fuͤhren, mit Bedeuten, der Papſt werde es an ſeiner
Huͤlfe nicht fehlen laſſen, wenn GOtt und er ſehen wuͤrden, was ihnen noͤthig ſey.
Siehe Innocent. libr. XIV, epiſt. 149, t. 2, p. 580. Ja die Schwaͤche der neuen
Republic ſchien dieſe Verbindung mit einem maͤchtigern Orden zu erfordern. Die Be-
gierde um eines kahlen Ablasbriefes wegen zu fechten, verlor ſich almaͤlig; und wer in
Deutſchland Vergebung der Suͤnden und ein fettes Landgut hatte, blieb lieber zu Hau-
ſe, als daß er ſich in Liefland von den Heiden oder in Palaͤſtina von den Sarace-
nen
tod ſchlagen lies. Dieſe Wenigkeit der ankommenden Pilger, unter denen ſich
der Biſchof doch immer die beſten auslas, reichte nicht zu, Liefland gegen die Daͤ-
nen, Ruſſen, Litthauer,
ja wol gar kuͤnftig gegen den benachbarten deutſchen
Orden zu ſchuͤtzen. Ueber dem reitzten die anſehnlichen Vorrechte des deutſchen Or-
dens, die ſie vom Kaiſer| Friedrich erhalten, die Lieflaͤnder ſtark; wozu man des klu-
gen Biſchof Alberts Tod auch mit rechnen kan, wodurch der Orden gleichſam zum Waiſen
geworden. Wer dieſe Urſachen erweget, wird leicht die Nothwendigkeit gewahr wer-
den, warum die Lieflaͤnder dieſe maͤchtige Verbindung ſuchen muͤſſen.
*) Liefland begreift im weitern Verſtande Eſtland mit in ſich, in welcher Bedeutung es die Auslaͤn-
der oft gebrauchen, als Raynald t. 13, p. 445: Arcis Reualiae in Liuonia ſitae. Zur Zeit des
Ordens gehoͤrte Curland mit dazu, welches die Meiſter ſo wenig in ihrem Titel benanten, als
Eſtland, indem ſie unter dem Namen eines Meiſters von Liefland, das ganze Curland und
Eſtland mit begriffen. Jn dieſem Verſtande rechnen auch noch die polniſchen Reviſionsherren
1599 Liefland von Narva an bis an Memel auf 100 Meilen. Heutiges Tages begreift es den
rigiſchen, wendenſchen, pernauiſchen und doͤrptiſchen Kreis in ſich, in deren beiden erſten
die lettiſche, in den beiden andern aber die eſtniſche Sprache geredet wird. Das alte Ug-
gannien,
oder das Doͤrptiſche nennen die Letten Jggaune Semme. Es faͤlt jetzo den Ohren
unertraͤglich Reualia-Liuenus zu ſchreiben; ob es gleich nicht ungeſchickt iſt, die in dieſen bei-
den Provinzen befindlichen Auslaͤnder und Deutſche Livonos zu betiteln, da die Nation des
Landes Liuones und Eſthones heiſſen, wie man etwan Liven, Eſten und Letten ſpricht,
durch Lieflaͤnder aber nur diejenigen verſtehet, welche ſonderlich aus Deutſchland als Coloni-
ſten Liefland beſetzet, und ſich einen Pflanzort, durch den Degen oder andre Mittel, zu wege ge-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: [Lettus, Henricus]: Der Liefländischen Chronik Andrer Theil. Halle (Saale), 1753, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lettus_chronik02_1753/53>, abgerufen am 27.11.2024.