den kostbarsten Samen gestreut: wie würde man es ängstlich hüten, damit es keinen Scha- den nähme, es vor jedem Flecken bewahren, je- des Stäubchen davon entfernen, wenn man wüßte, daß nur in vollkommen reiner Schale die heilige Saat gedeihen könne! Solch ein Gefäß bist Du, und nur, wenn Du rein bist von bösen Gedanken, kann sich die Gott- heit in Dir entfalten."
Jenny mochte es den Mienen ihres Zuhö- rers ansehen, daß er diese Auffassung nicht ganz billige, doch ließ sie sich dadurch nicht irre machen, sondern fuhr ruhig fort: "Dieses Gleichniß erfreute mich, und -- ich war da- mals noch ein Kind, Herr Pastor! -- ich fragte, ob nicht endlich, wenn die Saat zu einem mächtigen Baume geworden, dieser das kleine Gefäß zersprenge und sich frei mache, um frei die kühnen Wipfel zu dem blauen Himmel zu erheben, von dem das Saamen-
den koſtbarſten Samen geſtreut: wie würde man es ängſtlich hüten, damit es keinen Scha- den nähme, es vor jedem Flecken bewahren, je- des Stäubchen davon entfernen, wenn man wüßte, daß nur in vollkommen reiner Schale die heilige Saat gedeihen könne! Solch ein Gefäß biſt Du, und nur, wenn Du rein biſt von böſen Gedanken, kann ſich die Gott- heit in Dir entfalten.“
Jenny mochte es den Mienen ihres Zuhö- rers anſehen, daß er dieſe Auffaſſung nicht ganz billige, doch ließ ſie ſich dadurch nicht irre machen, ſondern fuhr ruhig fort: „Dieſes Gleichniß erfreute mich, und — ich war da- mals noch ein Kind, Herr Paſtor! — ich fragte, ob nicht endlich, wenn die Saat zu einem mächtigen Baume geworden, dieſer das kleine Gefäß zerſprenge und ſich frei mache, um frei die kühnen Wipfel zu dem blauen Himmel zu erheben, von dem das Saamen-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0311"n="303"/><lb/>
den koſtbarſten Samen geſtreut: wie würde<lb/>
man es ängſtlich hüten, damit es keinen Scha-<lb/>
den nähme, es vor jedem Flecken bewahren, je-<lb/>
des Stäubchen davon entfernen, wenn man<lb/>
wüßte, daß nur in vollkommen reiner Schale<lb/>
die heilige Saat gedeihen könne! Solch ein<lb/>
Gefäß biſt Du, und nur, wenn Du rein<lb/>
biſt von böſen Gedanken, kann ſich die Gott-<lb/>
heit in Dir entfalten.“</p><lb/><p>Jenny mochte es den Mienen ihres Zuhö-<lb/>
rers anſehen, daß er dieſe Auffaſſung nicht<lb/>
ganz billige, doch ließ ſie ſich dadurch nicht<lb/>
irre machen, ſondern fuhr ruhig fort: „Dieſes<lb/>
Gleichniß erfreute mich, und — ich war da-<lb/>
mals noch ein Kind, Herr Paſtor! — ich<lb/>
fragte, ob nicht endlich, wenn die Saat zu<lb/>
einem mächtigen Baume geworden, dieſer das<lb/>
kleine Gefäß zerſprenge und ſich frei mache,<lb/>
um frei die kühnen Wipfel zu dem blauen<lb/>
Himmel zu erheben, von dem das Saamen-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[303/0311]
den koſtbarſten Samen geſtreut: wie würde
man es ängſtlich hüten, damit es keinen Scha-
den nähme, es vor jedem Flecken bewahren, je-
des Stäubchen davon entfernen, wenn man
wüßte, daß nur in vollkommen reiner Schale
die heilige Saat gedeihen könne! Solch ein
Gefäß biſt Du, und nur, wenn Du rein
biſt von böſen Gedanken, kann ſich die Gott-
heit in Dir entfalten.“
Jenny mochte es den Mienen ihres Zuhö-
rers anſehen, daß er dieſe Auffaſſung nicht
ganz billige, doch ließ ſie ſich dadurch nicht
irre machen, ſondern fuhr ruhig fort: „Dieſes
Gleichniß erfreute mich, und — ich war da-
mals noch ein Kind, Herr Paſtor! — ich
fragte, ob nicht endlich, wenn die Saat zu
einem mächtigen Baume geworden, dieſer das
kleine Gefäß zerſprenge und ſich frei mache,
um frei die kühnen Wipfel zu dem blauen
Himmel zu erheben, von dem das Saamen-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny01_1843/311>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.