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Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843.

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den kostbarsten Samen gestreut: wie würde
man es ängstlich hüten, damit es keinen Scha-
den nähme, es vor jedem Flecken bewahren, je-
des Stäubchen davon entfernen, wenn man
wüßte, daß nur in vollkommen reiner Schale
die heilige Saat gedeihen könne! Solch ein
Gefäß bist Du, und nur, wenn Du rein
bist von bösen Gedanken, kann sich die Gott-
heit in Dir entfalten."

Jenny mochte es den Mienen ihres Zuhö-
rers ansehen, daß er diese Auffassung nicht
ganz billige, doch ließ sie sich dadurch nicht
irre machen, sondern fuhr ruhig fort: "Dieses
Gleichniß erfreute mich, und -- ich war da-
mals noch ein Kind, Herr Pastor! -- ich
fragte, ob nicht endlich, wenn die Saat zu
einem mächtigen Baume geworden, dieser das
kleine Gefäß zersprenge und sich frei mache,
um frei die kühnen Wipfel zu dem blauen
Himmel zu erheben, von dem das Saamen-


den koſtbarſten Samen geſtreut: wie würde
man es ängſtlich hüten, damit es keinen Scha-
den nähme, es vor jedem Flecken bewahren, je-
des Stäubchen davon entfernen, wenn man
wüßte, daß nur in vollkommen reiner Schale
die heilige Saat gedeihen könne! Solch ein
Gefäß biſt Du, und nur, wenn Du rein
biſt von böſen Gedanken, kann ſich die Gott-
heit in Dir entfalten.“

Jenny mochte es den Mienen ihres Zuhö-
rers anſehen, daß er dieſe Auffaſſung nicht
ganz billige, doch ließ ſie ſich dadurch nicht
irre machen, ſondern fuhr ruhig fort: „Dieſes
Gleichniß erfreute mich, und — ich war da-
mals noch ein Kind, Herr Paſtor! — ich
fragte, ob nicht endlich, wenn die Saat zu
einem mächtigen Baume geworden, dieſer das
kleine Gefäß zerſprenge und ſich frei mache,
um frei die kühnen Wipfel zu dem blauen
Himmel zu erheben, von dem das Saamen-

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[303/0311] den koſtbarſten Samen geſtreut: wie würde man es ängſtlich hüten, damit es keinen Scha- den nähme, es vor jedem Flecken bewahren, je- des Stäubchen davon entfernen, wenn man wüßte, daß nur in vollkommen reiner Schale die heilige Saat gedeihen könne! Solch ein Gefäß biſt Du, und nur, wenn Du rein biſt von böſen Gedanken, kann ſich die Gott- heit in Dir entfalten.“ Jenny mochte es den Mienen ihres Zuhö- rers anſehen, daß er dieſe Auffaſſung nicht ganz billige, doch ließ ſie ſich dadurch nicht irre machen, ſondern fuhr ruhig fort: „Dieſes Gleichniß erfreute mich, und — ich war da- mals noch ein Kind, Herr Paſtor! — ich fragte, ob nicht endlich, wenn die Saat zu einem mächtigen Baume geworden, dieſer das kleine Gefäß zerſprenge und ſich frei mache, um frei die kühnen Wipfel zu dem blauen Himmel zu erheben, von dem das Saamen-

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Zitationshilfe: Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny01_1843/311>, abgerufen am 22.11.2024.