nicht fehlen, daß ihre ganze Persönlichkeit, ver- bunden mit der tiefen, fast anbetenden Hin- gebung, die sie dem jungen Lehrer in den Stunden bewies, einen Eindruck auf ihn ma- chen mußten, gegen den er vergebens mit allen Waffen der Vernunft kämpfte. Welche Hoff- nungen konnte er für die Neigung hegen, die er für Jenny zu fühlen begann? Selbst wenn die Eltern in eine Heirath willigten, würde er es wagen, das reiche, verwöhnte Mädchen in sein armes Haus zu führen? -- So eigen- süchtig durfte er nicht sein, und von den Unter- stützungen ihres Vaters zu leben, zu wissen, daß seine Frau ihre behaglichen Verhältnisse nicht ihm allein verdanke, der Gedanke schien ihm, nach den Erfahrungen seiner Jugend, fast unerträglich, so herzlich er Jenny's Vater auch achtete. -- Nach jeder Stunde nahm er sich vor, den Unterricht unter irgend einem Vor- wande zu beendigen, um eine Liebe nicht tiefer
nicht fehlen, daß ihre ganze Perſönlichkeit, ver- bunden mit der tiefen, faſt anbetenden Hin- gebung, die ſie dem jungen Lehrer in den Stunden bewies, einen Eindruck auf ihn ma- chen mußten, gegen den er vergebens mit allen Waffen der Vernunft kämpfte. Welche Hoff- nungen konnte er für die Neigung hegen, die er für Jenny zu fühlen begann? Selbſt wenn die Eltern in eine Heirath willigten, würde er es wagen, das reiche, verwöhnte Mädchen in ſein armes Haus zu führen? — So eigen- ſüchtig durfte er nicht ſein, und von den Unter- ſtützungen ihres Vaters zu leben, zu wiſſen, daß ſeine Frau ihre behaglichen Verhältniſſe nicht ihm allein verdanke, der Gedanke ſchien ihm, nach den Erfahrungen ſeiner Jugend, faſt unerträglich, ſo herzlich er Jenny's Vater auch achtete. — Nach jeder Stunde nahm er ſich vor, den Unterricht unter irgend einem Vor- wande zu beendigen, um eine Liebe nicht tiefer
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nicht fehlen, daß ihre ganze Perſönlichkeit, ver-
bunden mit der tiefen, faſt anbetenden Hin-
gebung, die ſie dem jungen Lehrer in den
Stunden bewies, einen Eindruck auf ihn ma-
chen mußten, gegen den er vergebens mit allen
Waffen der Vernunft kämpfte. Welche Hoff-
nungen konnte er für die Neigung hegen, die
er für Jenny zu fühlen begann? Selbſt wenn
die Eltern in eine Heirath willigten, würde
er es wagen, das reiche, verwöhnte Mädchen
in ſein armes Haus zu führen? — So eigen-
ſüchtig durfte er nicht ſein, und von den Unter-
ſtützungen ihres Vaters zu leben, zu wiſſen,
daß ſeine Frau ihre behaglichen Verhältniſſe
nicht ihm allein verdanke, der Gedanke ſchien
ihm, nach den Erfahrungen ſeiner Jugend, faſt
unerträglich, ſo herzlich er Jenny's Vater auch
achtete. — Nach jeder Stunde nahm er ſich
vor, den Unterricht unter irgend einem Vor-
wande zu beendigen, um eine Liebe nicht tiefer
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Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny01_1843/84>, abgerufen am 24.11.2024.
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