fragte, wohin man mich verlange, wer erkrankt sei? "Ich selbst bin krank zum Sterben und ich wollte, ich wäre schon todt", antwortete der Unbekannte. Ich sah ihn prüfend an. Eine verfallene Gestalt, üsirte Züge und wenig, fast ergrautes Haar -- obgleich der Mann so alt nicht schien, um diesen gänzlichen Verfall zu rechtfertigen. "Sie kennen mich nicht mehr, oder wollen Sie mich nicht kennen?" fragte er höh- nisch. Aber ich hatte ihn bereits erkannt, trotz der fast unglaublichen Veränderung in seinem Aeußern. Es war Ferdinand."
"Ich nöthigte ihn, sich niederzusetzen. Ich fragte nach seiner Frau. "Nennen Sie das Weib nicht!" rief er und sein Gesicht zuckte krampfhaft. "Mit dem Wenigen, das man mir als Almosen hinwarf, vermochte sie sich nicht zu begnügen. Ihre Vorwürfe, ihre An- sprüche brachten mich zur Verzweiflung. Ich war krank, ein Fieber nahm mir die Besinnung
fragte, wohin man mich verlange, wer erkrankt ſei? „Ich ſelbſt bin krank zum Sterben und ich wollte, ich wäre ſchon todt“, antwortete der Unbekannte. Ich ſah ihn prüfend an. Eine verfallene Geſtalt, üſirte Züge und wenig, faſt ergrautes Haar — obgleich der Mann ſo alt nicht ſchien, um dieſen gänzlichen Verfall zu rechtfertigen. „Sie kennen mich nicht mehr, oder wollen Sie mich nicht kennen?“ fragte er höh- niſch. Aber ich hatte ihn bereits erkannt, trotz der faſt unglaublichen Veränderung in ſeinem Aeußern. Es war Ferdinand.“
„Ich nöthigte ihn, ſich niederzuſetzen. Ich fragte nach ſeiner Frau. „Nennen Sie das Weib nicht!“ rief er und ſein Geſicht zuckte krampfhaft. „Mit dem Wenigen, das man mir als Almoſen hinwarf, vermochte ſie ſich nicht zu begnügen. Ihre Vorwürfe, ihre An- ſprüche brachten mich zur Verzweiflung. Ich war krank, ein Fieber nahm mir die Beſinnung
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0219"n="209"/>
fragte, wohin man mich verlange, wer erkrankt<lb/>ſei? „Ich ſelbſt bin krank zum Sterben und ich<lb/>
wollte, ich wäre ſchon todt“, antwortete der<lb/>
Unbekannte. Ich ſah ihn prüfend an. Eine<lb/>
verfallene Geſtalt, üſirte Züge und wenig, faſt<lb/>
ergrautes Haar — obgleich der Mann ſo alt<lb/>
nicht ſchien, um dieſen gänzlichen Verfall zu<lb/>
rechtfertigen. „Sie kennen mich nicht mehr, oder<lb/>
wollen Sie mich nicht kennen?“ fragte er höh-<lb/>
niſch. Aber ich hatte ihn bereits erkannt, trotz<lb/>
der faſt unglaublichen Veränderung in ſeinem<lb/>
Aeußern. Es war Ferdinand.“</p><lb/><p>„Ich nöthigte ihn, ſich niederzuſetzen. Ich<lb/>
fragte nach ſeiner Frau. „Nennen Sie das<lb/>
Weib nicht!“ rief er und ſein Geſicht zuckte<lb/>
krampfhaft. „Mit dem Wenigen, das man<lb/>
mir als Almoſen hinwarf, vermochte ſie ſich<lb/>
nicht zu begnügen. Ihre Vorwürfe, ihre An-<lb/>ſprüche brachten mich zur Verzweiflung. Ich<lb/>
war krank, ein Fieber nahm mir die Beſinnung<lb/></p></div></body></text></TEI>
[209/0219]
fragte, wohin man mich verlange, wer erkrankt
ſei? „Ich ſelbſt bin krank zum Sterben und ich
wollte, ich wäre ſchon todt“, antwortete der
Unbekannte. Ich ſah ihn prüfend an. Eine
verfallene Geſtalt, üſirte Züge und wenig, faſt
ergrautes Haar — obgleich der Mann ſo alt
nicht ſchien, um dieſen gänzlichen Verfall zu
rechtfertigen. „Sie kennen mich nicht mehr, oder
wollen Sie mich nicht kennen?“ fragte er höh-
niſch. Aber ich hatte ihn bereits erkannt, trotz
der faſt unglaublichen Veränderung in ſeinem
Aeußern. Es war Ferdinand.“
„Ich nöthigte ihn, ſich niederzuſetzen. Ich
fragte nach ſeiner Frau. „Nennen Sie das
Weib nicht!“ rief er und ſein Geſicht zuckte
krampfhaft. „Mit dem Wenigen, das man
mir als Almoſen hinwarf, vermochte ſie ſich
nicht zu begnügen. Ihre Vorwürfe, ihre An-
ſprüche brachten mich zur Verzweiflung. Ich
war krank, ein Fieber nahm mir die Beſinnung
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 2. Leipzig, 1843, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny02_1843/219>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.