Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.eine stille, bleiche, junge Frau in einsamen, ihm gänzlich fremden Räumen. Das berührte ihn Alles auf einmal und entrückte mich ihm in jenem Augenblicke so, daß er mir mit einer scheuen Förmlichkeit begegnete, die auch mich verwirrend umfing. Wir hatten uns in dieser Stimmung nichts zu sagen, mein Mann umarmte mich zum Willkomm, ich küßte ihm die Hand. Es war still und bange zwischen uns, bis Schlichting sagte: Was haben wir verloren, ich und du, mein armes Kind! -- Da fing ich an zu weinen, und meine Thränen thauten mir die Seele auf. Dennoch behielten die ersten Tage etwas Beängstigendes für mich und ihn, so sehr er mich zu beruhigen bemüht war. Er sprach viel von meiner Mutter und von Klemenz, er erzählte von seinem Leben und Ergehen, ich von dem unsern; es kamen viele Bekannte, wir mußten auch Besuche machen, aber die Spannung ließ in mir nicht nach, und ich sah's, daß auch Schlichting sich neben mir gezwungen fühlte. Erst als ich ihm einmal mein ganzes Empfinden ausgesprochen, erst als er meine ganze Traurigkeit gewahrte, wurde seine Liebe frei und unbefangen. Wie ein Vater nahm er mich an sein Herz, wie ein gütiger Vater ließ er mich genesen neben sich und neue Lebenskraft und neue Lebenslust gewinnen. Schon nach wenigen Tagen begaben wir uns auf das Land. Schlichting wollte mir mehr Freiheit gönnen, eine stille, bleiche, junge Frau in einsamen, ihm gänzlich fremden Räumen. Das berührte ihn Alles auf einmal und entrückte mich ihm in jenem Augenblicke so, daß er mir mit einer scheuen Förmlichkeit begegnete, die auch mich verwirrend umfing. Wir hatten uns in dieser Stimmung nichts zu sagen, mein Mann umarmte mich zum Willkomm, ich küßte ihm die Hand. Es war still und bange zwischen uns, bis Schlichting sagte: Was haben wir verloren, ich und du, mein armes Kind! — Da fing ich an zu weinen, und meine Thränen thauten mir die Seele auf. Dennoch behielten die ersten Tage etwas Beängstigendes für mich und ihn, so sehr er mich zu beruhigen bemüht war. Er sprach viel von meiner Mutter und von Klemenz, er erzählte von seinem Leben und Ergehen, ich von dem unsern; es kamen viele Bekannte, wir mußten auch Besuche machen, aber die Spannung ließ in mir nicht nach, und ich sah's, daß auch Schlichting sich neben mir gezwungen fühlte. Erst als ich ihm einmal mein ganzes Empfinden ausgesprochen, erst als er meine ganze Traurigkeit gewahrte, wurde seine Liebe frei und unbefangen. Wie ein Vater nahm er mich an sein Herz, wie ein gütiger Vater ließ er mich genesen neben sich und neue Lebenskraft und neue Lebenslust gewinnen. Schon nach wenigen Tagen begaben wir uns auf das Land. Schlichting wollte mir mehr Freiheit gönnen, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div type="diaryEntry" n="2"> <p><pb facs="#f0125"/> eine stille, bleiche, junge Frau in einsamen, ihm gänzlich fremden Räumen.</p><lb/> <p>Das berührte ihn Alles auf einmal und entrückte mich ihm in jenem Augenblicke so, daß er mir mit einer scheuen Förmlichkeit begegnete, die auch mich verwirrend umfing. Wir hatten uns in dieser Stimmung nichts zu sagen, mein Mann umarmte mich zum Willkomm, ich küßte ihm die Hand. Es war still und bange zwischen uns, bis Schlichting sagte: Was haben wir verloren, ich und du, mein armes Kind! — Da fing ich an zu weinen, und meine Thränen thauten mir die Seele auf. Dennoch behielten die ersten Tage etwas Beängstigendes für mich und ihn, so sehr er mich zu beruhigen bemüht war. Er sprach viel von meiner Mutter und von Klemenz, er erzählte von seinem Leben und Ergehen, ich von dem unsern; es kamen viele Bekannte, wir mußten auch Besuche machen, aber die Spannung ließ in mir nicht nach, und ich sah's, daß auch Schlichting sich neben mir gezwungen fühlte.</p><lb/> <p>Erst als ich ihm einmal mein ganzes Empfinden ausgesprochen, erst als er meine ganze Traurigkeit gewahrte, wurde seine Liebe frei und unbefangen. Wie ein Vater nahm er mich an sein Herz, wie ein gütiger Vater ließ er mich genesen neben sich und neue Lebenskraft und neue Lebenslust gewinnen.</p><lb/> <p>Schon nach wenigen Tagen begaben wir uns auf das Land. Schlichting wollte mir mehr Freiheit gönnen,<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0125]
eine stille, bleiche, junge Frau in einsamen, ihm gänzlich fremden Räumen.
Das berührte ihn Alles auf einmal und entrückte mich ihm in jenem Augenblicke so, daß er mir mit einer scheuen Förmlichkeit begegnete, die auch mich verwirrend umfing. Wir hatten uns in dieser Stimmung nichts zu sagen, mein Mann umarmte mich zum Willkomm, ich küßte ihm die Hand. Es war still und bange zwischen uns, bis Schlichting sagte: Was haben wir verloren, ich und du, mein armes Kind! — Da fing ich an zu weinen, und meine Thränen thauten mir die Seele auf. Dennoch behielten die ersten Tage etwas Beängstigendes für mich und ihn, so sehr er mich zu beruhigen bemüht war. Er sprach viel von meiner Mutter und von Klemenz, er erzählte von seinem Leben und Ergehen, ich von dem unsern; es kamen viele Bekannte, wir mußten auch Besuche machen, aber die Spannung ließ in mir nicht nach, und ich sah's, daß auch Schlichting sich neben mir gezwungen fühlte.
Erst als ich ihm einmal mein ganzes Empfinden ausgesprochen, erst als er meine ganze Traurigkeit gewahrte, wurde seine Liebe frei und unbefangen. Wie ein Vater nahm er mich an sein Herz, wie ein gütiger Vater ließ er mich genesen neben sich und neue Lebenskraft und neue Lebenslust gewinnen.
Schon nach wenigen Tagen begaben wir uns auf das Land. Schlichting wollte mir mehr Freiheit gönnen,
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