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Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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mehr bin. -- Sie schloß es bei den Worten wieder zu und händigte mir es ein. Ich nahm es, und wir schwiegen Beide bewegter, als wir es einander merken lassen wollten. Wie kommen wir nur gerade heute zu solcher Stimmung? bemerkte ich nach einer Weile.

Mich wundert es vielmehr, entgegnete die Tante, daß man im Ganzen dem Hinblick auf seinen Tod so wenig Raum giebt. Schon seit ich mein vierzigstes Jahr zurückgelegt habe, seit ich mir sagen mußte, daß ich der Wahrscheinlichkeit zu Folge mindestens zwei Drittel meines Daseins abgelebt, hat mich der Gedanke an das Ende desselben niemals mehr verlassen. Aber bei deiner Gesundheit, wendete ich ein, und bei deiner Lebenslust und Heiterkeit sollte man das nicht glauben.

Ja! sagte sie, ich bin gesund, und lebenslustig und heiter bin ich, weil ich ruhig auf die Vergangenheit zurückblicken darf, und weil ich eben das Stückchen Leben, das mir noch bleiben dürfte, für mich und Andere recht benützen möchte. Ihr müßt doch einmal wissen, wozu ich für euch da war! sprach sie mit ihrem anmuthvollsten Lächeln und fügte dann scherzend hinzu: Ich versichere dich, ich bin ein besserer Christ und dabei auch ein besserer Philosoph, als ihr Alle es wissen oder denken könnt. -- Ich räumte ihr das von Grund des Herzens ein, denn mir war ihr heiteres, werkthätiges Wesen stets als die größte Schönheit und Weisheit vorgekommen, und wir brachten

mehr bin. — Sie schloß es bei den Worten wieder zu und händigte mir es ein. Ich nahm es, und wir schwiegen Beide bewegter, als wir es einander merken lassen wollten. Wie kommen wir nur gerade heute zu solcher Stimmung? bemerkte ich nach einer Weile.

Mich wundert es vielmehr, entgegnete die Tante, daß man im Ganzen dem Hinblick auf seinen Tod so wenig Raum giebt. Schon seit ich mein vierzigstes Jahr zurückgelegt habe, seit ich mir sagen mußte, daß ich der Wahrscheinlichkeit zu Folge mindestens zwei Drittel meines Daseins abgelebt, hat mich der Gedanke an das Ende desselben niemals mehr verlassen. Aber bei deiner Gesundheit, wendete ich ein, und bei deiner Lebenslust und Heiterkeit sollte man das nicht glauben.

Ja! sagte sie, ich bin gesund, und lebenslustig und heiter bin ich, weil ich ruhig auf die Vergangenheit zurückblicken darf, und weil ich eben das Stückchen Leben, das mir noch bleiben dürfte, für mich und Andere recht benützen möchte. Ihr müßt doch einmal wissen, wozu ich für euch da war! sprach sie mit ihrem anmuthvollsten Lächeln und fügte dann scherzend hinzu: Ich versichere dich, ich bin ein besserer Christ und dabei auch ein besserer Philosoph, als ihr Alle es wissen oder denken könnt. — Ich räumte ihr das von Grund des Herzens ein, denn mir war ihr heiteres, werkthätiges Wesen stets als die größte Schönheit und Weisheit vorgekommen, und wir brachten

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[0017] mehr bin. — Sie schloß es bei den Worten wieder zu und händigte mir es ein. Ich nahm es, und wir schwiegen Beide bewegter, als wir es einander merken lassen wollten. Wie kommen wir nur gerade heute zu solcher Stimmung? bemerkte ich nach einer Weile. Mich wundert es vielmehr, entgegnete die Tante, daß man im Ganzen dem Hinblick auf seinen Tod so wenig Raum giebt. Schon seit ich mein vierzigstes Jahr zurückgelegt habe, seit ich mir sagen mußte, daß ich der Wahrscheinlichkeit zu Folge mindestens zwei Drittel meines Daseins abgelebt, hat mich der Gedanke an das Ende desselben niemals mehr verlassen. Aber bei deiner Gesundheit, wendete ich ein, und bei deiner Lebenslust und Heiterkeit sollte man das nicht glauben. Ja! sagte sie, ich bin gesund, und lebenslustig und heiter bin ich, weil ich ruhig auf die Vergangenheit zurückblicken darf, und weil ich eben das Stückchen Leben, das mir noch bleiben dürfte, für mich und Andere recht benützen möchte. Ihr müßt doch einmal wissen, wozu ich für euch da war! sprach sie mit ihrem anmuthvollsten Lächeln und fügte dann scherzend hinzu: Ich versichere dich, ich bin ein besserer Christ und dabei auch ein besserer Philosoph, als ihr Alle es wissen oder denken könnt. — Ich räumte ihr das von Grund des Herzens ein, denn mir war ihr heiteres, werkthätiges Wesen stets als die größte Schönheit und Weisheit vorgekommen, und wir brachten

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:16:08Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:16:08Z)

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Zitationshilfe: Lewald, Fanny: Die Tante. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 14. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 69–193. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_tante_1910/17>, abgerufen am 28.04.2024.