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[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739.

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(o)
das verächtlichste unter allen Geschöpffen, übrig ge-
lassen, den sie nicht hinten und vorne betrachtet, und
uns nach allen Theilen beschrieben?

Aber was bemühe ich mich viel, mein Verfahren zu
rechtfertigen? Belieben Sie nur den Abriß meiner
gefrornen Fenster-Scheibe anzusehen: Jch bin versi-
chert, Sie werden über die seltsamen Figuren erstau-
nen, und gestehen, daß die Natur, so viel wir wissen,
noch niemahlen etwas hervor gebracht hat, das mit
selbigen zu vergleichen wäre. Sie wohnen in einem Lan-
de, da die Kälte so strenge ist, als an einem Orte in der
Welt: aber erinnern Sie sich dergleichen gesehen zu ha-
ben? Jch will eben nicht sagen, daß die Natur bey Jh-
nen nicht eben so spiele, als bey uns: Jch glaube gerne,
daß, wer sich die Mühe geben wolte, ihre Eis-Berge
zu durchsuchen, viele sonderbare Entdeckungen ma-
chen könnte: Allein es gehet Jhnen und ihren Lands-
Leuten, wie allen andern Menschen. Wir achten nicht
auf das, was wir täglich sehen, und bewundern nur
was selten ist. Selbst bey uns, da die Kälte kaum
einige Monate anhält, herrscht eine unglaubliche
Nachläßigkeit in Untersuchung der Wirckung des
Frostes; und ich zweifele nicht, daß vielemeiner Lan-
des-Leute mich auslachen werden, daß ich aus einer
gefrornen Fenster-Scheibeso viel Wesens mache.

Aber ich will diesen Herren rahten, daß sie nicht so
laut lachen, daß ich es höre. Jch werde sie fragen,
was dann die Kleinigkeiten, darüber sie gantze Bücher
schreiben, wohl sonderbares an sich haben? Wie
durchwühlen sie nicht unser Ufer, um ein Steinchen zu
finden, das wehrt ist, in Kupffer gestochen, und seiner
Seltenheit wegen umständlich beschrieben zu werden?

Jch

(o)
das veraͤchtlichſte unter allen Geſchoͤpffen, uͤbrig ge-
laſſen, den ſie nicht hinten und vorne betrachtet, und
uns nach allen Theilen beſchrieben?

Aber was bemuͤhe ich mich viel, mein Verfahren zu
rechtfertigen? Belieben Sie nur den Abriß meiner
gefrornen Fenſter-Scheibe anzuſehen: Jch bin verſi-
chert, Sie werden uͤber die ſeltſamen Figuren erſtau-
nen, und geſtehen, daß die Natur, ſo viel wir wiſſen,
noch niemahlen etwas hervor gebracht hat, das mit
ſelbigẽ zu vergleichen waͤre. Sie wohnen in einem Lan-
de, da die Kaͤlte ſo ſtrenge iſt, als an einem Orte in der
Welt: aber eriñern Sie ſich dergleichen geſehen zu ha-
ben? Jch will eben nicht ſagen, daß die Natur bey Jh-
nen nicht eben ſo ſpiele, als bey uns: Jch glaube gerne,
daß, wer ſich die Muͤhe geben wolte, ihre Eis-Berge
zu durchſuchen, viele ſonderbare Entdeckungen ma-
chen koͤnnte: Allein es gehet Jhnen und ihren Lands-
Leuten, wie allen andern Menſchen. Wir achten nicht
auf das, was wir taͤglich ſehen, und bewundern nur
was ſelten iſt. Selbſt bey uns, da die Kaͤlte kaum
einige Monate anhaͤlt, herrſcht eine unglaubliche
Nachlaͤßigkeit in Unterſuchung der Wirckung des
Froſtes; und ich zweifele nicht, daß vielemeiner Lan-
des-Leute mich auslachen werden, daß ich aus einer
gefrornen Fenſter-Scheibeſo viel Weſens mache.

Aber ich will dieſen Herren rahten, daß ſie nicht ſo
laut lachen, daß ich es hoͤre. Jch werde ſie fragen,
was dann die Kleinigkeiten, daruͤber ſie gantze Buͤcher
ſchreiben, wohl ſonderbares an ſich haben? Wie
durchwuͤhlen ſie nicht unſer Ufer, um ein Steinchen zu
finden, das wehrt iſt, in Kupffer geſtochen, und ſeiner
Seltenheit wegen umſtaͤndlich beſchrieben zu weꝛden?

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[54/0146] (o) das veraͤchtlichſte unter allen Geſchoͤpffen, uͤbrig ge- laſſen, den ſie nicht hinten und vorne betrachtet, und uns nach allen Theilen beſchrieben? Aber was bemuͤhe ich mich viel, mein Verfahren zu rechtfertigen? Belieben Sie nur den Abriß meiner gefrornen Fenſter-Scheibe anzuſehen: Jch bin verſi- chert, Sie werden uͤber die ſeltſamen Figuren erſtau- nen, und geſtehen, daß die Natur, ſo viel wir wiſſen, noch niemahlen etwas hervor gebracht hat, das mit ſelbigẽ zu vergleichen waͤre. Sie wohnen in einem Lan- de, da die Kaͤlte ſo ſtrenge iſt, als an einem Orte in der Welt: aber eriñern Sie ſich dergleichen geſehen zu ha- ben? Jch will eben nicht ſagen, daß die Natur bey Jh- nen nicht eben ſo ſpiele, als bey uns: Jch glaube gerne, daß, wer ſich die Muͤhe geben wolte, ihre Eis-Berge zu durchſuchen, viele ſonderbare Entdeckungen ma- chen koͤnnte: Allein es gehet Jhnen und ihren Lands- Leuten, wie allen andern Menſchen. Wir achten nicht auf das, was wir taͤglich ſehen, und bewundern nur was ſelten iſt. Selbſt bey uns, da die Kaͤlte kaum einige Monate anhaͤlt, herrſcht eine unglaubliche Nachlaͤßigkeit in Unterſuchung der Wirckung des Froſtes; und ich zweifele nicht, daß vielemeiner Lan- des-Leute mich auslachen werden, daß ich aus einer gefrornen Fenſter-Scheibeſo viel Weſens mache. Aber ich will dieſen Herren rahten, daß ſie nicht ſo laut lachen, daß ich es hoͤre. Jch werde ſie fragen, was dann die Kleinigkeiten, daruͤber ſie gantze Buͤcher ſchreiben, wohl ſonderbares an ſich haben? Wie durchwuͤhlen ſie nicht unſer Ufer, um ein Steinchen zu finden, das wehrt iſt, in Kupffer geſtochen, und ſeiner Seltenheit wegen umſtaͤndlich beſchrieben zu weꝛden? Jch

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Zitationshilfe: [Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/146>, abgerufen am 22.11.2024.