den sich ein, sie müsten die Sache, wovon sie schrei- ben wollen, aus dem Grunde verstehen, und ver- derben die edle Zeit mit der unnützen und lächerli- chen Ueberlegung, ob sie auch der Materie, wel- che sie abhandeln wollen, gewachsen sind, bloß darum, weil ein alter Grillenfänger, der, aus vor- setzlicher Boßheit, den Menschen das Schreiben schwer machen wollen, gesaget hat:
Von allem diesem Ungemach sind wir frey. Wir erkennen die Schädlichkeit der Vernunft, und kehren uns also wenig an ihre Regeln. Unsere Absicht ist, ein Buch zu schreiben. Diesen Zweck erreichen wir, wenn wir so viel Papier, als dazu nöthig ist, mit Buchstaben bemahlen. Ob der Sinn, der aus diesen Buchstaben heraus kömmt, wenn man sie zusammen setzet, vernünftig ist, oder nicht, daran ist uns wenig gelegen. Wolten wir alles nach der Vernunft abmessen, so müsten wir dencken: Und das Dencken greift den Kopf an, nimmt viel Zeit weg, und nützet doch, wenn man die Wahrheit sagen soll, nichts. So oft unsere Feinde unsere Schriften lesen, sprechen sie: Der Mensch kan nicht dencken; Und dennoch können sie unmöglich leugnen, daß dieser Mensch, der nicht dencken kan, ein Buch geschrieben habe; weil
sie
(27)Horatius de Arte poetica.
Kk 2
(o)
den ſich ein, ſie muͤſten die Sache, wovon ſie ſchrei- ben wollen, aus dem Grunde verſtehen, und ver- derben die edle Zeit mit der unnuͤtzen und laͤcherli- chen Ueberlegung, ob ſie auch der Materie, wel- che ſie abhandeln wollen, gewachſen ſind, bloß darum, weil ein alter Grillenfaͤnger, der, aus vor- ſetzlicher Boßheit, den Menſchen das Schreiben ſchwer machen wollen, geſaget hat:
Von allem dieſem Ungemach ſind wir frey. Wir erkennen die Schaͤdlichkeit der Vernunft, und kehren uns alſo wenig an ihre Regeln. Unſere Abſicht iſt, ein Buch zu ſchreiben. Dieſen Zweck erreichen wir, wenn wir ſo viel Papier, als dazu noͤthig iſt, mit Buchſtaben bemahlen. Ob der Sinn, der aus dieſen Buchſtaben heraus koͤmmt, wenn man ſie zuſammen ſetzet, vernuͤnftig iſt, oder nicht, daran iſt uns wenig gelegen. Wolten wir alles nach der Vernunft abmeſſen, ſo muͤſten wir dencken: Und das Dencken greift den Kopf an, nimmt viel Zeit weg, und nuͤtzet doch, wenn man die Wahrheit ſagen ſoll, nichts. So oft unſere Feinde unſere Schriften leſen, ſprechen ſie: Der Menſch kan nicht dencken; Und dennoch koͤnnen ſie unmoͤglich leugnen, daß dieſer Menſch, der nicht dencken kan, ein Buch geſchrieben habe; weil
ſie
(27)Horatius de Arte poëtica.
Kk 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0607"n="515"/><fwplace="top"type="header">(<hirendition="#aq">o</hi>)</fw><lb/>
den ſich ein, ſie muͤſten die Sache, wovon ſie ſchrei-<lb/>
ben wollen, aus dem Grunde verſtehen, und ver-<lb/>
derben die edle Zeit mit der unnuͤtzen und laͤcherli-<lb/>
chen Ueberlegung, ob ſie auch der Materie, wel-<lb/>
che ſie abhandeln wollen, gewachſen ſind, bloß<lb/>
darum, weil ein alter Grillenfaͤnger, der, aus vor-<lb/>ſetzlicher Boßheit, den Menſchen das Schreiben<lb/>ſchwer machen wollen, geſaget hat:</p><lb/><cit><quote>“<hirendition="#aq">Sumite materiam veſtris, qui ſcribitis,<lb/><hirendition="#et">æquam</hi><lb/>“Viribus, & verſate diu, quid ferre re-<lb/><hirendition="#et">cuſent.</hi><lb/>“Quid valeant humeri</hi> . . . . . .<lb/><hirendition="#et">…<noteplace="foot"n="(27)"><hirendition="#aq">Horatius de Arte poëtica.</hi></note>.</hi></quote></cit><lb/><p>Von allem dieſem Ungemach ſind wir frey. Wir<lb/>
erkennen die Schaͤdlichkeit der Vernunft, und<lb/>
kehren uns alſo wenig an ihre Regeln. Unſere<lb/>
Abſicht iſt, ein Buch zu ſchreiben. Dieſen Zweck<lb/>
erreichen wir, wenn wir ſo viel Papier, als dazu<lb/>
noͤthig iſt, mit Buchſtaben bemahlen. Ob der<lb/>
Sinn, der aus dieſen Buchſtaben heraus koͤmmt,<lb/>
wenn man ſie zuſammen ſetzet, vernuͤnftig iſt, oder<lb/>
nicht, daran iſt uns wenig gelegen. Wolten wir<lb/>
alles nach der Vernunft abmeſſen, ſo muͤſten wir<lb/>
dencken: Und das Dencken greift den Kopf an,<lb/>
nimmt viel Zeit weg, und nuͤtzet doch, wenn man<lb/>
die Wahrheit ſagen ſoll, nichts. So oft unſere<lb/>
Feinde unſere Schriften leſen, ſprechen ſie: Der<lb/>
Menſch kan nicht dencken; Und dennoch koͤnnen<lb/>ſie unmoͤglich leugnen, daß dieſer Menſch, der<lb/>
nicht dencken kan, ein Buch geſchrieben habe; weil<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Kk 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">ſie</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[515/0607]
(o)
den ſich ein, ſie muͤſten die Sache, wovon ſie ſchrei-
ben wollen, aus dem Grunde verſtehen, und ver-
derben die edle Zeit mit der unnuͤtzen und laͤcherli-
chen Ueberlegung, ob ſie auch der Materie, wel-
che ſie abhandeln wollen, gewachſen ſind, bloß
darum, weil ein alter Grillenfaͤnger, der, aus vor-
ſetzlicher Boßheit, den Menſchen das Schreiben
ſchwer machen wollen, geſaget hat:
“Sumite materiam veſtris, qui ſcribitis,
æquam
“Viribus, & verſate diu, quid ferre re-
cuſent.
“Quid valeant humeri . . . . . .
… (27).
Von allem dieſem Ungemach ſind wir frey. Wir
erkennen die Schaͤdlichkeit der Vernunft, und
kehren uns alſo wenig an ihre Regeln. Unſere
Abſicht iſt, ein Buch zu ſchreiben. Dieſen Zweck
erreichen wir, wenn wir ſo viel Papier, als dazu
noͤthig iſt, mit Buchſtaben bemahlen. Ob der
Sinn, der aus dieſen Buchſtaben heraus koͤmmt,
wenn man ſie zuſammen ſetzet, vernuͤnftig iſt, oder
nicht, daran iſt uns wenig gelegen. Wolten wir
alles nach der Vernunft abmeſſen, ſo muͤſten wir
dencken: Und das Dencken greift den Kopf an,
nimmt viel Zeit weg, und nuͤtzet doch, wenn man
die Wahrheit ſagen ſoll, nichts. So oft unſere
Feinde unſere Schriften leſen, ſprechen ſie: Der
Menſch kan nicht dencken; Und dennoch koͤnnen
ſie unmoͤglich leugnen, daß dieſer Menſch, der
nicht dencken kan, ein Buch geſchrieben habe; weil
ſie
(27) Horatius de Arte poëtica.
Kk 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 515. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/607>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.