Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739.

Bild:
<< vorherige Seite

(o)
ist. Kan man wohl wunderlicher zu Wercke gehen?
Sprechen sie: Sie blieben bey der Erkänntniß ihrer
Fehler nicht, stehen, sondern bemüheten sich, durch
die Ablegung derselben, die Vollkommenheit zu er-
reichen, die allein einen Scribenten vergnügt ma-
chen kan? So antworte ich: Daß es unmöglich sey,
auf folche Art vergnügt und glücklich zu werden. Jch
berufe mich desfalls auf die Erfahrung. Wäre es
möglich, so müste die Zufriedenheit eines Scriben-
ten, der es in der Ausbesserung seiner Fehler weit ge-
bracht, und der Vollkommenheit sehr nahe gekom-
men ist, grösser seyn, als eines andern, der es nicht
so hoch gebracht, und weiter von der Vollkommen-
heit entfernet ist. Aber so sehen wir täglich das Ge-
gentheil. Montaigne (49) sagt; Es gehe den Ge-
lehrten wie den Aehren, die so lange aufrecht stehen,
und sich brüsten, als sie leer sind; so bald sie aber von
Körnern schwer werden, das Haupt sincken lassen;
Und er hat Recht. Ein unvollkommener Scri-
bent ist bey allen seinen Fehlern vergnügt, und mit
sich selbst zu frieden. Je näher hergegen ein Scri-
bent der Vollkommenheit kömmt, je mehr Fehler
entdeckt er an sich; je leckerer, je verdrießlicher, je
mißvergnügter mit sich selbst wird er. Die Ursa-
che ist diese, weil die Vollkommenheit, nach wel-
cher die guten Scribenten streben, eine leere Ein-

bildung
(49) Liv. II. Chap. 12. pag. 302. 303. Il est advenu
aux gens veritablement scavans, ce qui advient
aux espics de bled, ils vont s'eslevant & haussant
la teste droite & fiere, tant qu'ils sont vuides;
mais quand ils sont pleins & grossis de grain en
leur maturite, ils commencent a s'humiliet &
baisser les cornes.

(o)
iſt. Kan man wohl wunderlicher zu Wercke gehen?
Sprechen ſie: Sie blieben bey der Erkaͤnntniß ihrer
Fehler nicht, ſtehen, ſondern bemuͤheten ſich, durch
die Ablegung derſelben, die Vollkommenheit zu er-
reichen, die allein einen Scribenten vergnuͤgt ma-
chen kan? So antworte ich: Daß es unmoͤglich ſey,
auf folche Art vergnuͤgt und gluͤcklich zu werden. Jch
berufe mich desfalls auf die Erfahrung. Waͤre es
moͤglich, ſo muͤſte die Zufriedenheit eines Scriben-
ten, der es in der Ausbeſſerung ſeiner Fehler weit ge-
bracht, und der Vollkommenheit ſehr nahe gekom-
men iſt, groͤſſer ſeyn, als eines andern, der es nicht
ſo hoch gebracht, und weiter von der Vollkommen-
heit entfernet iſt. Aber ſo ſehen wir taͤglich das Ge-
gentheil. Montaigne (49) ſagt; Es gehe den Ge-
lehrten wie den Aehren, die ſo lange aufrecht ſtehen,
und ſich bruͤſten, als ſie leer ſind; ſo bald ſie aber von
Koͤrnern ſchwer werden, das Haupt ſincken laſſen;
Und er hat Recht. Ein unvollkommener Scri-
bent iſt bey allen ſeinen Fehlern vergnuͤgt, und mit
ſich ſelbſt zu frieden. Je naͤher hergegen ein Scri-
bent der Vollkommenheit koͤmmt, je mehr Fehler
entdeckt er an ſich; je leckerer, je verdrießlicher, je
mißvergnuͤgter mit ſich ſelbſt wird er. Die Urſa-
che iſt dieſe, weil die Vollkommenheit, nach wel-
cher die guten Scribenten ſtreben, eine leere Ein-

bildung
(49) Liv. II. Chap. 12. pag. 302. 303. Il eſt advenu
aux gens veritablement ſçavans, ce qui advient
aux eſpics de bled, ils vont s’eslevant & hauſſant
la teſte droite & fiere, tant qu’ils ſont vuides;
mais quand ils ſont pleins & groſſis de grain en
leur maturité, ils commencent à s’humiliet &
baiſſer les cornes.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0635" n="543"/><fw place="top" type="header">(<hi rendition="#aq">o</hi>)</fw><lb/>
i&#x017F;t. Kan man wohl wunderlicher zu Wercke gehen?<lb/>
Sprechen &#x017F;ie: Sie blieben bey der Erka&#x0364;nntniß ihrer<lb/>
Fehler nicht, &#x017F;tehen, &#x017F;ondern bemu&#x0364;heten &#x017F;ich, durch<lb/>
die Ablegung der&#x017F;elben, die Vollkommenheit zu er-<lb/>
reichen, die allein einen Scribenten vergnu&#x0364;gt ma-<lb/>
chen kan? So antworte ich: Daß es unmo&#x0364;glich &#x017F;ey,<lb/>
auf folche Art vergnu&#x0364;gt und glu&#x0364;cklich zu werden. Jch<lb/>
berufe mich desfalls auf die Erfahrung. Wa&#x0364;re es<lb/>
mo&#x0364;glich, &#x017F;o mu&#x0364;&#x017F;te die Zufriedenheit eines Scriben-<lb/>
ten, der es in der Ausbe&#x017F;&#x017F;erung &#x017F;einer Fehler weit ge-<lb/>
bracht, und der Vollkommenheit &#x017F;ehr nahe gekom-<lb/>
men i&#x017F;t, gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;er &#x017F;eyn, als eines andern, der es nicht<lb/>
&#x017F;o hoch gebracht, und weiter von der Vollkommen-<lb/>
heit entfernet i&#x017F;t. Aber &#x017F;o &#x017F;ehen wir ta&#x0364;glich das Ge-<lb/>
gentheil. Montaigne <note place="foot" n="(49)"><hi rendition="#aq">Liv. II. Chap. 12. pag. 302. 303. Il e&#x017F;t advenu<lb/>
aux gens veritablement &#x017F;çavans, ce qui advient<lb/>
aux e&#x017F;pics de bled, ils vont s&#x2019;eslevant &amp; hau&#x017F;&#x017F;ant<lb/>
la te&#x017F;te droite &amp; fiere, tant qu&#x2019;ils &#x017F;ont vuides;<lb/>
mais quand ils &#x017F;ont pleins &amp; gro&#x017F;&#x017F;is de grain en<lb/>
leur maturité, ils commencent à s&#x2019;humiliet &amp;<lb/>
bai&#x017F;&#x017F;er les cornes.</hi></note> &#x017F;agt; Es gehe den Ge-<lb/>
lehrten wie den Aehren, die &#x017F;o lange aufrecht &#x017F;tehen,<lb/>
und &#x017F;ich bru&#x0364;&#x017F;ten, als &#x017F;ie leer &#x017F;ind; &#x017F;o bald &#x017F;ie aber von<lb/>
Ko&#x0364;rnern &#x017F;chwer werden, das Haupt &#x017F;incken la&#x017F;&#x017F;en;<lb/>
Und er hat Recht. Ein unvollkommener Scri-<lb/>
bent i&#x017F;t bey allen &#x017F;einen Fehlern vergnu&#x0364;gt, und mit<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zu frieden. Je na&#x0364;her hergegen ein Scri-<lb/>
bent der Vollkommenheit ko&#x0364;mmt, je mehr Fehler<lb/>
entdeckt er an &#x017F;ich; je leckerer, je verdrießlicher, je<lb/>
mißvergnu&#x0364;gter mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t wird er. Die Ur&#x017F;a-<lb/>
che i&#x017F;t die&#x017F;e, weil die Vollkommenheit, nach wel-<lb/>
cher die guten Scribenten &#x017F;treben, eine leere Ein-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">bildung</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[543/0635] (o) iſt. Kan man wohl wunderlicher zu Wercke gehen? Sprechen ſie: Sie blieben bey der Erkaͤnntniß ihrer Fehler nicht, ſtehen, ſondern bemuͤheten ſich, durch die Ablegung derſelben, die Vollkommenheit zu er- reichen, die allein einen Scribenten vergnuͤgt ma- chen kan? So antworte ich: Daß es unmoͤglich ſey, auf folche Art vergnuͤgt und gluͤcklich zu werden. Jch berufe mich desfalls auf die Erfahrung. Waͤre es moͤglich, ſo muͤſte die Zufriedenheit eines Scriben- ten, der es in der Ausbeſſerung ſeiner Fehler weit ge- bracht, und der Vollkommenheit ſehr nahe gekom- men iſt, groͤſſer ſeyn, als eines andern, der es nicht ſo hoch gebracht, und weiter von der Vollkommen- heit entfernet iſt. Aber ſo ſehen wir taͤglich das Ge- gentheil. Montaigne (49) ſagt; Es gehe den Ge- lehrten wie den Aehren, die ſo lange aufrecht ſtehen, und ſich bruͤſten, als ſie leer ſind; ſo bald ſie aber von Koͤrnern ſchwer werden, das Haupt ſincken laſſen; Und er hat Recht. Ein unvollkommener Scri- bent iſt bey allen ſeinen Fehlern vergnuͤgt, und mit ſich ſelbſt zu frieden. Je naͤher hergegen ein Scri- bent der Vollkommenheit koͤmmt, je mehr Fehler entdeckt er an ſich; je leckerer, je verdrießlicher, je mißvergnuͤgter mit ſich ſelbſt wird er. Die Urſa- che iſt dieſe, weil die Vollkommenheit, nach wel- cher die guten Scribenten ſtreben, eine leere Ein- bildung (49) Liv. II. Chap. 12. pag. 302. 303. Il eſt advenu aux gens veritablement ſçavans, ce qui advient aux eſpics de bled, ils vont s’eslevant & hauſſant la teſte droite & fiere, tant qu’ils ſont vuides; mais quand ils ſont pleins & groſſis de grain en leur maturité, ils commencent à s’humiliet & baiſſer les cornes.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Die Verlagsangabe wurde ermittelt (vgl. http://op… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/635
Zitationshilfe: [Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 543. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/635>, abgerufen am 22.11.2024.