Die Unvollkommenheit ist eine Eigenschaft der Creatur, wie ich schon bewiesen habe: und es ist noth- wendig, daß unter Creaturen, deren eine jede mit der Begierde sich zu erhalten, und, ohne Absicht auf ih- re Neben-Geschöpfe, glücklich zu machen, ausgerü- stet ist, über die hierzu dienlichen Dinge mit der Zeit ein Streit entstehe, der nicht anders, als durch einen Vergleich, der den Besitz der Dinge gewiß machet, gehoben werden kan. Wir nehmen diesen Streit auch unter Creaturen wahr, die unstreitig ihre Vollkom- menheit, darinn sie erschafen sind, nicht verlohren ha- ben. Zweene Hunde an einem Beine vertragen sich selten: Niemand sagt aber darum, daß der erste Hund eine Sünde begangen habe, daher diese Zancksucht seiner Nachkommen entstanden sey.
Und wenn dann gleich, würde ich ferner sprechen, die ersten Menschen sich nicht, wie wir ietzo, um den Besitz der Dinge gezancket, sondern gleichsam alles untereinander gemein gehabt hätten, so ist doch dar- um nicht zu behaupten, daß sie eine Vollkommen- heit besessen haben, die nachhero veriohren gegangen. Sie lebten in einer Einfalt, in welcher eine Creatur, die so jung ist, und keine Erfahrnng hat, leben muß: Sie kannten den Gebrauch der meisten Dinge nicht, und wusten nicht, was es sey, vor den andern Morgen zu sorgen, weil ihnen das, was man Noth und Man- gel heißt, noch unbekannt war. Jhrer waren so we- nig, daß sie nicht besorgen durften, die Früchte der Er- de möchten nicht zureichen, sie alle zu ernehren: Sie kannten sich alle, und lebten also in einer grössern Freundschaft und Vertraulichkeit, als ietzo die Men- schen leben können. Man siehet leicht, daß dieses al-
les
(o)
Die Unvollkommenheit iſt eine Eigenſchaft der Creatur, wie ich ſchon bewieſen habe: und es iſt noth- wendig, daß unter Creaturen, deren eine jede mit der Begierde ſich zu erhalten, und, ohne Abſicht auf ih- re Neben-Geſchoͤpfe, gluͤcklich zu machen, ausgeruͤ- ſtet iſt, uͤber die hierzu dienlichen Dinge mit der Zeit ein Streit entſtehe, der nicht anders, als durch einen Vergleich, der den Beſitz der Dinge gewiß machet, gehoben werden kan. Wir nehmen dieſen Streit auch unter Creaturen wahr, die unſtreitig ihre Vollkom- menheit, darinn ſie erſchafen ſind, nicht verlohren ha- ben. Zweene Hunde an einem Beine vertragen ſich ſelten: Niemand ſagt aber darum, daß der erſte Hund eine Suͤnde begangen habe, daher dieſe Zanckſucht ſeiner Nachkommen entſtanden ſey.
Und wenn dann gleich, wuͤrde ich ferner ſprechen, die erſten Menſchen ſich nicht, wie wir ietzo, um den Beſitz der Dinge gezancket, ſondern gleichſam alles untereinander gemein gehabt haͤtten, ſo iſt doch dar- um nicht zu behaupten, daß ſie eine Vollkommen- heit beſeſſen haben, die nachhero veriohren gegangen. Sie lebten in einer Einfalt, in welcher eine Creatur, die ſo jung iſt, und keine Erfahrnng hat, leben muß: Sie kannten den Gebrauch der meiſten Dinge nicht, und wuſten nicht, was es ſey, vor den andern Morgen zu ſorgen, weil ihnen das, was man Noth und Man- gel heißt, noch unbekannt war. Jhrer waren ſo we- nig, daß ſie nicht beſorgen durften, die Fruͤchte der Er- de moͤchten nicht zureichen, ſie alle zu ernehren: Sie kannten ſich alle, und lebten alſo in einer groͤſſern Freundſchaft und Vertraulichkeit, als ietzo die Men- ſchen leben koͤnnen. Man ſiehet leicht, daß dieſes al-
les
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0807"n="715"/><fwplace="top"type="header">(<hirendition="#aq">o</hi>)</fw><lb/><p>Die Unvollkommenheit iſt eine Eigenſchaft der<lb/>
Creatur, wie ich ſchon bewieſen habe: und es iſt noth-<lb/>
wendig, daß unter Creaturen, deren eine jede mit der<lb/>
Begierde ſich zu erhalten, und, ohne Abſicht auf ih-<lb/>
re Neben-Geſchoͤpfe, gluͤcklich zu machen, ausgeruͤ-<lb/>ſtet iſt, uͤber die hierzu dienlichen Dinge mit der Zeit<lb/>
ein Streit entſtehe, der nicht anders, als durch einen<lb/>
Vergleich, der den Beſitz der Dinge gewiß machet,<lb/>
gehoben werden kan. Wir nehmen dieſen Streit auch<lb/>
unter Creaturen wahr, die unſtreitig ihre Vollkom-<lb/>
menheit, darinn ſie erſchafen ſind, nicht verlohren ha-<lb/>
ben. Zweene Hunde an einem Beine vertragen ſich<lb/>ſelten: Niemand ſagt aber darum, daß der erſte Hund<lb/>
eine Suͤnde begangen habe, daher dieſe Zanckſucht<lb/>ſeiner Nachkommen entſtanden ſey.</p><lb/><p>Und wenn dann gleich, wuͤrde ich ferner ſprechen,<lb/>
die erſten Menſchen ſich nicht, wie wir ietzo, um den<lb/>
Beſitz der Dinge gezancket, ſondern gleichſam alles<lb/>
untereinander gemein gehabt haͤtten, ſo iſt doch dar-<lb/>
um nicht zu behaupten, daß ſie eine Vollkommen-<lb/>
heit beſeſſen haben, die nachhero veriohren gegangen.<lb/>
Sie lebten in einer Einfalt, in welcher eine Creatur,<lb/>
die ſo jung iſt, und keine Erfahrnng hat, leben muß:<lb/>
Sie kannten den Gebrauch der meiſten Dinge nicht,<lb/>
und wuſten nicht, was es ſey, vor den andern Morgen<lb/>
zu ſorgen, weil ihnen das, was man Noth und Man-<lb/>
gel heißt, noch unbekannt war. Jhrer waren ſo we-<lb/>
nig, daß ſie nicht beſorgen durften, die Fruͤchte der Er-<lb/>
de moͤchten nicht zureichen, ſie alle zu ernehren: Sie<lb/>
kannten ſich alle, und lebten alſo in einer groͤſſern<lb/>
Freundſchaft und Vertraulichkeit, als ietzo die Men-<lb/>ſchen leben koͤnnen. Man ſiehet leicht, daß dieſes al-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">les</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[715/0807]
(o)
Die Unvollkommenheit iſt eine Eigenſchaft der
Creatur, wie ich ſchon bewieſen habe: und es iſt noth-
wendig, daß unter Creaturen, deren eine jede mit der
Begierde ſich zu erhalten, und, ohne Abſicht auf ih-
re Neben-Geſchoͤpfe, gluͤcklich zu machen, ausgeruͤ-
ſtet iſt, uͤber die hierzu dienlichen Dinge mit der Zeit
ein Streit entſtehe, der nicht anders, als durch einen
Vergleich, der den Beſitz der Dinge gewiß machet,
gehoben werden kan. Wir nehmen dieſen Streit auch
unter Creaturen wahr, die unſtreitig ihre Vollkom-
menheit, darinn ſie erſchafen ſind, nicht verlohren ha-
ben. Zweene Hunde an einem Beine vertragen ſich
ſelten: Niemand ſagt aber darum, daß der erſte Hund
eine Suͤnde begangen habe, daher dieſe Zanckſucht
ſeiner Nachkommen entſtanden ſey.
Und wenn dann gleich, wuͤrde ich ferner ſprechen,
die erſten Menſchen ſich nicht, wie wir ietzo, um den
Beſitz der Dinge gezancket, ſondern gleichſam alles
untereinander gemein gehabt haͤtten, ſo iſt doch dar-
um nicht zu behaupten, daß ſie eine Vollkommen-
heit beſeſſen haben, die nachhero veriohren gegangen.
Sie lebten in einer Einfalt, in welcher eine Creatur,
die ſo jung iſt, und keine Erfahrnng hat, leben muß:
Sie kannten den Gebrauch der meiſten Dinge nicht,
und wuſten nicht, was es ſey, vor den andern Morgen
zu ſorgen, weil ihnen das, was man Noth und Man-
gel heißt, noch unbekannt war. Jhrer waren ſo we-
nig, daß ſie nicht beſorgen durften, die Fruͤchte der Er-
de moͤchten nicht zureichen, ſie alle zu ernehren: Sie
kannten ſich alle, und lebten alſo in einer groͤſſern
Freundſchaft und Vertraulichkeit, als ietzo die Men-
ſchen leben koͤnnen. Man ſiehet leicht, daß dieſes al-
les
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Liscow, Christian Ludwig]: Samlung Satyrischer und Ernsthafter Schriften. Frankfurt u. a., 1739, S. 715. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liscow_samlung_1739/807>, abgerufen am 31.10.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.