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Lohenstein, Daniel Casper von: Großmüthiger Feldherr Arminius oder Herrmann. Bd. 1. Leipzig, 1689.

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Arminius und Thußnelda.
[Spaltenumbruch] des ersten Menschen die Leber vom Wolf-
fe/ das Hertze vom Tiger/ die Nieren vom
Schweine/ die Nase vom Nasen-Horn-Thiere/
die Zunge von der Schlange/ die Zähne vom
Hunde/ die Augen vom Basilisken/ das Gesich-
te vom Affen/ die Hände vom Geyer/ den Ma-
gen vom Strauße geborget habe. Bey welcher
Bewandnüß Pythagoras wol Ursache gehabt
hat seinen Nachfolgern alle Abend die Prüfung
ihrer Gestalt/ und die Untersuchung des ver-
übten Bösen/ oder des unterlassenen Guten so
nachdrücklich einzuhalten. Sintemahl seine
Fehler erkennen schon eine halbe Vollkommen-
heit ist. Denn wie nur die/ welche erwacht
sind/ ihre Träume erzehlen können; also ver-
mag auch niemand seine Gebrechen wahrneh-
men/ als der ihnen gram wird/ und sich schon
der Tugend befleißigt. Deßhalben band Plato
in seinen Gesetzen nach anbefohlner Verehrung
Gottes/ die Ehrerbietung gegen seine eigene
Seele so sehr ein/ und daß ein ieder sie für seine
Zeugin alles seines Thuns; ja gegen seinen ei-
genen Leib verschämt seyn solte. Denn hier-
durch stellet man sich für den Richter-Stul des
Gewissens/ welches niemahls ohne Erleuch-
tung seines Verstandes/ und ohne Besserung
seines Willens abgehet. Diese Prüfung un-
sers Lebens ist die Mäß-Rute/ welche uns be-
nachrichtiget/ wie viel Schritte wir uns der
Tugend genähert haben/ und wie ferne wir
noch von dem Angel-Sterne der Glückseligkeit
entfernet sind; welche in der Ruhe des Gemü-
thes bestehet. Sintemahl einen Laster hafften
seine Begierden nie ruhen/ seine Sorgen nie
schlafen lassen. Der Verdruß überfället ihn
in der Einsamkeit/ in Gemeinschafften ist er mit
niemanden weniger zu frieden/ als mit ihm
selbst; er erzittert für einem [r]auschenden Blate/
und seine ihm einkommende Boßheiten machen
ihm alle Wolcken von Blitze trächtig; ja wenn
alle andere ihn für unschuldig erkennen/ ver-
dammet ihn sein eigen Hertze. Denn sein Ge-
[Spaltenumbruch] wissen weiß mehr/ als kein Zeuge/ und hat mehr
gesehen/ als seine ihn Tag und Nacht bewa-
chende Trabanten. Hingegen ist der/ welcher sich
kennen lernt/ nicht nur selbst/ sondern auch alle
andere mit ihm zu frieden. Denn weil er sieht:
daß er nicht besser/ als andere sey/ thut er an-
dern auch nichts anders/ als ihm selbst. Er be-
müht sich deßhalben zweymahl so viel gutes zu
stifften; weil er unstraffbar könte böses thun; ja
weil wilde Thiere aus Furcht das verbotene un-
ter lassen/ schätzte er sich unwürdig ein Mensch
zu seyn/ wenn er sich dessen aus einem andern
Triebe enthielte/ als weil er vernünfftig ist.
Dergestalt ist ein sich selbst kennender Mensch
ihm allezeit gleich; wie unterschieden gleich sei-
ne Verrichtungen sind. Daher ihm Alcibia-
des niemahls unähnlich wird/ ob gleich seine
Klugheit ihn zu Athen ansehnlich/ zu Thebe ar-
beitsam/ zu Sparta sparsam/ in Persen einen
Jäger seyn heißt. Und Cato verändert in dem
veränderten Rom niemahls sein Antlitz/ weni-
ger sein Gemüthe; wenn schon andere nicht
nur/ wie die Feldhüner in Paphlagonien/ zwey
Hertzen haben/ sondern einem ieden ihnen belie-
benden Dinge eines zueignen. Da ihr Erkänt-
nüß ihnen doch sagen würde: daß ihr einiges nur
dem einigen Gotte zu wiedmen sey. Weß wegen
die weisen Griechen diese Artzney der Selbst-
Erkäntnüß billich mit Gold über die Pfosten
des Delphischen Tempels geschrieben/ ich aber
zu meiner steten Erinnerung in diesen Felß ü-
ber den Eingang der Höle gegraben habe/ wor-
mit es so wol ich/ als ieder Kluger ihm in sein
Hertz prege. Sintemahl diß der Delphische
Apollo für den Kern menschlicher Klugheit er-
kennet hat. Lieber Marbod/ weil du dich nun
selbst nicht kennest; magstu dich wol unterste-
hen/ denen Göttlichen Gliedern den Augen;
welche nicht ohne Wunderwercke alle Dinge
der Seele abbilden/ oder sie gleichsam erschaf-
fen/ hierdurch aber selbst der Natur der Hand-
langerin Göttlicher Allmacht Mängel auszu-

stellen?
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Arminius und Thußnelda.
[Spaltenumbruch] des erſten Menſchen die Leber vom Wolf-
fe/ das Hertze vom Tiger/ die Nieren vom
Schweine/ die Naſe vom Naſen-Horn-Thieꝛe/
die Zunge von der Schlange/ die Zaͤhne vom
Hunde/ die Augen vom Baſilisken/ das Geſich-
te vom Affen/ die Haͤnde vom Geyer/ den Ma-
gen vom Strauße geborget habe. Bey welcher
Bewandnuͤß Pythagoras wol Urſache gehabt
hat ſeinen Nachfolgern alle Abend die Pruͤfung
ihrer Geſtalt/ und die Unterſuchung des ver-
uͤbten Boͤſen/ oder des unterlaſſenen Guten ſo
nachdruͤcklich einzuhalten. Sintemahl ſeine
Fehler erkennen ſchon eine halbe Vollkommen-
heit iſt. Denn wie nur die/ welche erwacht
ſind/ ihre Traͤume erzehlen koͤnnen; alſo ver-
mag auch niemand ſeine Gebrechen wahrneh-
men/ als der ihnen gram wird/ und ſich ſchon
der Tugend befleißigt. Deßhalben band Plato
in ſeinen Geſetzen nach anbefohlner Verehrung
Gottes/ die Ehrerbietung gegen ſeine eigene
Seele ſo ſehr ein/ und daß ein ieder ſie fuͤr ſeine
Zeugin alles ſeines Thuns; ja gegen ſeinen ei-
genen Leib verſchaͤmt ſeyn ſolte. Denn hier-
durch ſtellet man ſich fuͤr den Richter-Stul des
Gewiſſens/ welches niemahls ohne Erleuch-
tung ſeines Verſtandes/ und ohne Beſſerung
ſeines Willens abgehet. Dieſe Pruͤfung un-
ſers Lebens iſt die Maͤß-Rute/ welche uns be-
nachrichtiget/ wie viel Schritte wir uns der
Tugend genaͤhert haben/ und wie ferne wir
noch von dem Angel-Sterne der Gluͤckſeligkeit
entfernet ſind; welche in der Ruhe des Gemuͤ-
thes beſtehet. Sintemahl einen Laſter hafften
ſeine Begierden nie ruhen/ ſeine Sorgen nie
ſchlafen laſſen. Der Verdruß uͤberfaͤllet ihn
in der Einſamkeit/ in Gemeinſchafften iſt er mit
niemanden weniger zu frieden/ als mit ihm
ſelbſt; er erzittert fuͤr einem [r]auſchenden Blate/
und ſeine ihm einkommende Boßheiten machen
ihm alle Wolcken von Blitze traͤchtig; ja wenn
alle andere ihn fuͤr unſchuldig erkennen/ ver-
dammet ihn ſein eigen Hertze. Denn ſein Ge-
[Spaltenumbruch] wiſſen weiß mehr/ als kein Zeuge/ und hat mehr
geſehen/ als ſeine ihn Tag und Nacht bewa-
chende Trabanten. Hingegẽ iſt der/ welcher ſich
kennen lernt/ nicht nur ſelbſt/ ſondern auch alle
andere mit ihm zu frieden. Denn weil er ſieht:
daß er nicht beſſer/ als andere ſey/ thut er an-
dern auch nichts anders/ als ihm ſelbſt. Er be-
muͤht ſich deßhalben zweymahl ſo viel gutes zu
ſtifften; weil er unſtraffbar koͤnte boͤſes thun; ja
weil wilde Thiere aus Furcht das verbotene un-
ter laſſen/ ſchaͤtzte er ſich unwuͤrdig ein Menſch
zu ſeyn/ wenn er ſich deſſen aus einem andern
Triebe enthielte/ als weil er vernuͤnfftig iſt.
Dergeſtalt iſt ein ſich ſelbſt kennender Menſch
ihm allezeit gleich; wie unterſchieden gleich ſei-
ne Verrichtungen ſind. Daher ihm Alcibia-
des niemahls unaͤhnlich wird/ ob gleich ſeine
Klugheit ihn zu Athen anſehnlich/ zu Thebe ar-
beitſam/ zu Sparta ſparſam/ in Perſen einen
Jaͤger ſeyn heißt. Und Cato veraͤndert in dem
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ger ſein Gemuͤthe; wenn ſchon andere nicht
nur/ wie die Feldhuͤner in Paphlagonien/ zwey
Hertzen haben/ ſondern einem ieden ihnen belie-
benden Dinge eines zueignen. Da ihr Erkaͤnt-
nuͤß ihnen doch ſagen wuͤrde: daß ihr einiges nur
dem einigen Gotte zu wiedmen ſey. Weß wegen
die weiſen Griechen dieſe Artzney der Selbſt-
Erkaͤntnuͤß billich mit Gold uͤber die Pfoſten
des Delphiſchen Tempels geſchrieben/ ich aber
zu meiner ſteten Erinnerung in dieſen Felß uͤ-
ber den Eingang der Hoͤle gegraben habe/ wor-
mit es ſo wol ich/ als ieder Kluger ihm in ſein
Hertz prege. Sintemahl diß der Delphiſche
Apollo fuͤr den Kern menſchlicher Klugheit er-
kennet hat. Lieber Marbod/ weil du dich nun
ſelbſt nicht kenneſt; magſtu dich wol unterſte-
hen/ denen Goͤttlichen Gliedern den Augen;
welche nicht ohne Wunderwercke alle Dinge
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[1101[1103]/1165] Arminius und Thußnelda. des erſten Menſchen die Leber vom Wolf- fe/ das Hertze vom Tiger/ die Nieren vom Schweine/ die Naſe vom Naſen-Horn-Thieꝛe/ die Zunge von der Schlange/ die Zaͤhne vom Hunde/ die Augen vom Baſilisken/ das Geſich- te vom Affen/ die Haͤnde vom Geyer/ den Ma- gen vom Strauße geborget habe. Bey welcher Bewandnuͤß Pythagoras wol Urſache gehabt hat ſeinen Nachfolgern alle Abend die Pruͤfung ihrer Geſtalt/ und die Unterſuchung des ver- uͤbten Boͤſen/ oder des unterlaſſenen Guten ſo nachdruͤcklich einzuhalten. Sintemahl ſeine Fehler erkennen ſchon eine halbe Vollkommen- heit iſt. Denn wie nur die/ welche erwacht ſind/ ihre Traͤume erzehlen koͤnnen; alſo ver- mag auch niemand ſeine Gebrechen wahrneh- men/ als der ihnen gram wird/ und ſich ſchon der Tugend befleißigt. Deßhalben band Plato in ſeinen Geſetzen nach anbefohlner Verehrung Gottes/ die Ehrerbietung gegen ſeine eigene Seele ſo ſehr ein/ und daß ein ieder ſie fuͤr ſeine Zeugin alles ſeines Thuns; ja gegen ſeinen ei- genen Leib verſchaͤmt ſeyn ſolte. Denn hier- durch ſtellet man ſich fuͤr den Richter-Stul des Gewiſſens/ welches niemahls ohne Erleuch- tung ſeines Verſtandes/ und ohne Beſſerung ſeines Willens abgehet. Dieſe Pruͤfung un- ſers Lebens iſt die Maͤß-Rute/ welche uns be- nachrichtiget/ wie viel Schritte wir uns der Tugend genaͤhert haben/ und wie ferne wir noch von dem Angel-Sterne der Gluͤckſeligkeit entfernet ſind; welche in der Ruhe des Gemuͤ- thes beſtehet. Sintemahl einen Laſter hafften ſeine Begierden nie ruhen/ ſeine Sorgen nie ſchlafen laſſen. Der Verdruß uͤberfaͤllet ihn in der Einſamkeit/ in Gemeinſchafften iſt er mit niemanden weniger zu frieden/ als mit ihm ſelbſt; er erzittert fuͤr einem rauſchenden Blate/ und ſeine ihm einkommende Boßheiten machen ihm alle Wolcken von Blitze traͤchtig; ja wenn alle andere ihn fuͤr unſchuldig erkennen/ ver- dammet ihn ſein eigen Hertze. Denn ſein Ge- wiſſen weiß mehr/ als kein Zeuge/ und hat mehr geſehen/ als ſeine ihn Tag und Nacht bewa- chende Trabanten. Hingegẽ iſt der/ welcher ſich kennen lernt/ nicht nur ſelbſt/ ſondern auch alle andere mit ihm zu frieden. Denn weil er ſieht: daß er nicht beſſer/ als andere ſey/ thut er an- dern auch nichts anders/ als ihm ſelbſt. Er be- muͤht ſich deßhalben zweymahl ſo viel gutes zu ſtifften; weil er unſtraffbar koͤnte boͤſes thun; ja weil wilde Thiere aus Furcht das verbotene un- ter laſſen/ ſchaͤtzte er ſich unwuͤrdig ein Menſch zu ſeyn/ wenn er ſich deſſen aus einem andern Triebe enthielte/ als weil er vernuͤnfftig iſt. Dergeſtalt iſt ein ſich ſelbſt kennender Menſch ihm allezeit gleich; wie unterſchieden gleich ſei- ne Verrichtungen ſind. Daher ihm Alcibia- des niemahls unaͤhnlich wird/ ob gleich ſeine Klugheit ihn zu Athen anſehnlich/ zu Thebe ar- beitſam/ zu Sparta ſparſam/ in Perſen einen Jaͤger ſeyn heißt. Und Cato veraͤndert in dem veraͤnderten Rom niemahls ſein Antlitz/ weni- ger ſein Gemuͤthe; wenn ſchon andere nicht nur/ wie die Feldhuͤner in Paphlagonien/ zwey Hertzen haben/ ſondern einem ieden ihnen belie- benden Dinge eines zueignen. Da ihr Erkaͤnt- nuͤß ihnen doch ſagen wuͤrde: daß ihr einiges nur dem einigen Gotte zu wiedmen ſey. Weß wegen die weiſen Griechen dieſe Artzney der Selbſt- Erkaͤntnuͤß billich mit Gold uͤber die Pfoſten des Delphiſchen Tempels geſchrieben/ ich aber zu meiner ſteten Erinnerung in dieſen Felß uͤ- ber den Eingang der Hoͤle gegraben habe/ wor- mit es ſo wol ich/ als ieder Kluger ihm in ſein Hertz prege. Sintemahl diß der Delphiſche Apollo fuͤr den Kern menſchlicher Klugheit er- kennet hat. Lieber Marbod/ weil du dich nun ſelbſt nicht kenneſt; magſtu dich wol unterſte- hen/ denen Goͤttlichen Gliedern den Augen; welche nicht ohne Wunderwercke alle Dinge der Seele abbilden/ oder ſie gleichſam erſchaf- fen/ hierdurch aber ſelbſt der Natur der Hand- langerin Goͤttlicher Allmacht Maͤngel auszu- ſtellen? Z z z z z z 3

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Zitationshilfe: Lohenstein, Daniel Casper von: Großmüthiger Feldherr Arminius oder Herrmann. Bd. 1. Leipzig, 1689, S. 1101[1103]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lohenstein_feldherr01_1689/1165>, abgerufen am 23.11.2024.