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Lohmann, Friederike: Die Entscheidung bei Hochkirch. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 63–137. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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heranwachsen; sie bedarf nichts, als die Freiheit sich auszusprechen, und die soll sie haben; so lange sie lebt, mag sie reden wie und was sie will. -- Nach diesem Grundsatz durfte Justine den Hausherrn freimüthig tadeln, wo es außer ihr keine Stimme gewagt hätte, sie würde es aber auch ohne seine Erlaubniß gethan haben. Keine Rücksicht hatte jemals ihren Mund verschlossen, wo ihr Herz voll war; sie kannte weder Furcht noch Bedenklichkeit, wenn der Fluß der Rede über die Zunge strömte. Dazu, meinte sie, habe uns Gott die Sprache gegeben, als Vorzug vor der unvernünftigen Kreatur, daß wir einander ermahnten und nicht abließen, in den Irrenden hinein zu reden, bis er der Wahrheit die Ehre gäbe, möge auch, was er irrt, uns selbst nicht brennen noch verwunden. -- Und die Männer, dachte sie, die hochmüthigen Männer müssen und sollen uns wenigstens hören; sie haben Degen und Federn, und Uebermacht von Kindheit an; wir aber haben Zungen, die wollen wir denn brauchen, und uns nicht fürchten, mögen sie sich noch so wild geberden! -- Durch ein dunkles Gefühl geleitet, sagte sie indessen dem Herrn ihre Wahrheiten nur unter vier Augen; aber wenn ihr Herz solcher Erleichterung bedurfte, schien einer ihrer vornehmsten Lebenstriebe gehemmt, und sie umschlich ihn in großer Unruhe, bis es gelang, ihn in der Einsamkeit zu überraschen.

Justine hatte das vierundsiebenzigste Jahr zurückgelegt, aber es fehlte ihr nicht an Kraft und Rüstigkeit.

heranwachsen; sie bedarf nichts, als die Freiheit sich auszusprechen, und die soll sie haben; so lange sie lebt, mag sie reden wie und was sie will. — Nach diesem Grundsatz durfte Justine den Hausherrn freimüthig tadeln, wo es außer ihr keine Stimme gewagt hätte, sie würde es aber auch ohne seine Erlaubniß gethan haben. Keine Rücksicht hatte jemals ihren Mund verschlossen, wo ihr Herz voll war; sie kannte weder Furcht noch Bedenklichkeit, wenn der Fluß der Rede über die Zunge strömte. Dazu, meinte sie, habe uns Gott die Sprache gegeben, als Vorzug vor der unvernünftigen Kreatur, daß wir einander ermahnten und nicht abließen, in den Irrenden hinein zu reden, bis er der Wahrheit die Ehre gäbe, möge auch, was er irrt, uns selbst nicht brennen noch verwunden. — Und die Männer, dachte sie, die hochmüthigen Männer müssen und sollen uns wenigstens hören; sie haben Degen und Federn, und Uebermacht von Kindheit an; wir aber haben Zungen, die wollen wir denn brauchen, und uns nicht fürchten, mögen sie sich noch so wild geberden! — Durch ein dunkles Gefühl geleitet, sagte sie indessen dem Herrn ihre Wahrheiten nur unter vier Augen; aber wenn ihr Herz solcher Erleichterung bedurfte, schien einer ihrer vornehmsten Lebenstriebe gehemmt, und sie umschlich ihn in großer Unruhe, bis es gelang, ihn in der Einsamkeit zu überraschen.

Justine hatte das vierundsiebenzigste Jahr zurückgelegt, aber es fehlte ihr nicht an Kraft und Rüstigkeit.

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[0011] heranwachsen; sie bedarf nichts, als die Freiheit sich auszusprechen, und die soll sie haben; so lange sie lebt, mag sie reden wie und was sie will. — Nach diesem Grundsatz durfte Justine den Hausherrn freimüthig tadeln, wo es außer ihr keine Stimme gewagt hätte, sie würde es aber auch ohne seine Erlaubniß gethan haben. Keine Rücksicht hatte jemals ihren Mund verschlossen, wo ihr Herz voll war; sie kannte weder Furcht noch Bedenklichkeit, wenn der Fluß der Rede über die Zunge strömte. Dazu, meinte sie, habe uns Gott die Sprache gegeben, als Vorzug vor der unvernünftigen Kreatur, daß wir einander ermahnten und nicht abließen, in den Irrenden hinein zu reden, bis er der Wahrheit die Ehre gäbe, möge auch, was er irrt, uns selbst nicht brennen noch verwunden. — Und die Männer, dachte sie, die hochmüthigen Männer müssen und sollen uns wenigstens hören; sie haben Degen und Federn, und Uebermacht von Kindheit an; wir aber haben Zungen, die wollen wir denn brauchen, und uns nicht fürchten, mögen sie sich noch so wild geberden! — Durch ein dunkles Gefühl geleitet, sagte sie indessen dem Herrn ihre Wahrheiten nur unter vier Augen; aber wenn ihr Herz solcher Erleichterung bedurfte, schien einer ihrer vornehmsten Lebenstriebe gehemmt, und sie umschlich ihn in großer Unruhe, bis es gelang, ihn in der Einsamkeit zu überraschen. Justine hatte das vierundsiebenzigste Jahr zurückgelegt, aber es fehlte ihr nicht an Kraft und Rüstigkeit.

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:20:58Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:20:58Z)

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Zitationshilfe: Lohmann, Friederike: Die Entscheidung bei Hochkirch. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 63–137. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lohmann_hochkirch_1910/11>, abgerufen am 03.12.2024.