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Lohmann, Friederike: Die Entscheidung bei Hochkirch. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 63–137. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Sie war früh am Morgen auf, im netten Anzuge, mit Contusche und Rock vom feinsten Zitz, zierlich klappende Pantöffelchen an den Füßen, eine stattliche Dormeuse über dem grauen, gepuderten Haar. Ihre schwarzen Augen blickten frisch und lebhaft über eine gekrümmte Nase hin, sie drangen nicht mehr in die Ferne, waren aber in gehöriger Nähe nicht leicht zu täuschen. Sie gab oft Winke, wie sie in ihrer Jugend ein sehr hübsches Mädchen gewesen sei; die Kinder konnten sich das nicht denken; das vorlaute Lottchen zupfte Marianen bei solcher Erzählung und flüsterte ihr zu: Glaubst du das, Marianchen? Ich nicht. Die gute Justine sieht doch leibhaftig aus, wie Hofmarschalls alter Papagei. -- Mariane fand heimlich den Vergleich treffend, gab aber Lottchen einen ernsten Verweis, und nun verzog das Kind keine Miene wieder. Galt es, die Nachlässigkeit der Dienerschaft zu verbessern, Flecken vom Fußboden zu tilgen, Spinngewebe zu vernichten, oder das blanke Geräth spiegelhell zu machen, so beschämte Justinens Hand noch immer das jüngste Mädchen, und sie war hoch verwundert, wenn sie eine verlorene Masche am Strumpf nicht wieder finden konnte, wenn Mariane sie suchen mußte. Der enge Bezirk des Hauses war ihre Welt, seit vier Jahren kam ihr Fuß nicht mehr auf die Straße; es wäre ihr eben so möglich gewesen, sich zu einer Reise nach Rom als zu einem Gange über die Brücke zu entschließen, die sie aus ihrem Fenster sah.

Doch, so lange wir leben, macht die Welt ihre

Sie war früh am Morgen auf, im netten Anzuge, mit Contusche und Rock vom feinsten Zitz, zierlich klappende Pantöffelchen an den Füßen, eine stattliche Dormeuse über dem grauen, gepuderten Haar. Ihre schwarzen Augen blickten frisch und lebhaft über eine gekrümmte Nase hin, sie drangen nicht mehr in die Ferne, waren aber in gehöriger Nähe nicht leicht zu täuschen. Sie gab oft Winke, wie sie in ihrer Jugend ein sehr hübsches Mädchen gewesen sei; die Kinder konnten sich das nicht denken; das vorlaute Lottchen zupfte Marianen bei solcher Erzählung und flüsterte ihr zu: Glaubst du das, Marianchen? Ich nicht. Die gute Justine sieht doch leibhaftig aus, wie Hofmarschalls alter Papagei. — Mariane fand heimlich den Vergleich treffend, gab aber Lottchen einen ernsten Verweis, und nun verzog das Kind keine Miene wieder. Galt es, die Nachlässigkeit der Dienerschaft zu verbessern, Flecken vom Fußboden zu tilgen, Spinngewebe zu vernichten, oder das blanke Geräth spiegelhell zu machen, so beschämte Justinens Hand noch immer das jüngste Mädchen, und sie war hoch verwundert, wenn sie eine verlorene Masche am Strumpf nicht wieder finden konnte, wenn Mariane sie suchen mußte. Der enge Bezirk des Hauses war ihre Welt, seit vier Jahren kam ihr Fuß nicht mehr auf die Straße; es wäre ihr eben so möglich gewesen, sich zu einer Reise nach Rom als zu einem Gange über die Brücke zu entschließen, die sie aus ihrem Fenster sah.

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Zitationshilfe: Lohmann, Friederike: Die Entscheidung bei Hochkirch. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 5. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 63–137. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lohmann_hochkirch_1910/12>, abgerufen am 29.03.2024.