aufgewacht, und Fritz Nettenmair begreift, das Thun, zu dem der Zorn ihn hinreißen will, muß erschaffen, was noch nicht ist, muß beschleunigen, was kommen wird. Er ist arm geworden, entsetzlich arm. Die Zu¬ kunft ist nicht mehr sein; er darf nicht auf Tage hinausrechnen; er lebt nur noch von Augenblick zu Augenblick; er muß festhalten, was zwischen dem gegenwärtigen ist und dem nächstkommenden. Und dazwischen ist nichts, als Qual und Kampf.
Er hat die Frau bis jetzt geliebt, wie er Alles that, wie er selbst war, oberflächlich -- und jovial. Das Gewissen hat seine Seele ausgetieft. Die Furcht vor dem Verlust hat ihn ein ander Lieben gelehrt. Das Lieben lehrte ihn wiederum ein ander Fürchten. Hätt' er sie früher so geliebt, wie jetzt, ihre tiefste Seele hätte sich ihm vielleicht geöffnet, sie hätte auch ihn geliebt. Sie haben Jahre zusammengelebt, sind nebeneinander gegangen, ihre Seelen wußten nichts von einander. Dem Leibe nach Gattin und Mutter ist ihre Seele ein Mädchen geblieben. Er hat die tiefern Bedürfnisse ihres Herzens nicht geweckt, er kannte sie nicht; er hätte sie nicht befriedigen können. Er erkennt sie erst, wie sie sich einem Fremden zuwenden. Er fühlt erst, was er besaß, ohne es zu haben, nun es einem Andern gehört. Mit welcher Empfindung sieht er die Knospe ihres Angesichts sich entfalten, die er schon für die Blume hielt! Welch niegeahnter Himmel öffnet
aufgewacht, und Fritz Nettenmair begreift, das Thun, zu dem der Zorn ihn hinreißen will, muß erſchaffen, was noch nicht iſt, muß beſchleunigen, was kommen wird. Er iſt arm geworden, entſetzlich arm. Die Zu¬ kunft iſt nicht mehr ſein; er darf nicht auf Tage hinausrechnen; er lebt nur noch von Augenblick zu Augenblick; er muß feſthalten, was zwiſchen dem gegenwärtigen iſt und dem nächſtkommenden. Und dazwiſchen iſt nichts, als Qual und Kampf.
Er hat die Frau bis jetzt geliebt, wie er Alles that, wie er ſelbſt war, oberflächlich — und jovial. Das Gewiſſen hat ſeine Seele ausgetieft. Die Furcht vor dem Verluſt hat ihn ein ander Lieben gelehrt. Das Lieben lehrte ihn wiederum ein ander Fürchten. Hätt' er ſie früher ſo geliebt, wie jetzt, ihre tiefſte Seele hätte ſich ihm vielleicht geöffnet, ſie hätte auch ihn geliebt. Sie haben Jahre zuſammengelebt, ſind nebeneinander gegangen, ihre Seelen wußten nichts von einander. Dem Leibe nach Gattin und Mutter iſt ihre Seele ein Mädchen geblieben. Er hat die tiefern Bedürfniſſe ihres Herzens nicht geweckt, er kannte ſie nicht; er hätte ſie nicht befriedigen können. Er erkennt ſie erſt, wie ſie ſich einem Fremden zuwenden. Er fühlt erſt, was er beſaß, ohne es zu haben, nun es einem Andern gehört. Mit welcher Empfindung ſieht er die Knospe ihres Angeſichts ſich entfalten, die er ſchon für die Blume hielt! Welch niegeahnter Himmel öffnet
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aufgewacht, und Fritz Nettenmair begreift, das Thun,
zu dem der Zorn ihn hinreißen will, muß erſchaffen,
was noch nicht iſt, muß beſchleunigen, was kommen
wird. Er iſt arm geworden, entſetzlich arm. Die Zu¬
kunft iſt nicht mehr ſein; er darf nicht auf Tage
hinausrechnen; er lebt nur noch von Augenblick zu
Augenblick; er muß feſthalten, was zwiſchen dem
gegenwärtigen iſt und dem nächſtkommenden. Und
dazwiſchen iſt nichts, als Qual und Kampf.
Er hat die Frau bis jetzt geliebt, wie er Alles that,
wie er ſelbſt war, oberflächlich — und jovial. Das
Gewiſſen hat ſeine Seele ausgetieft. Die Furcht vor
dem Verluſt hat ihn ein ander Lieben gelehrt. Das
Lieben lehrte ihn wiederum ein ander Fürchten. Hätt'
er ſie früher ſo geliebt, wie jetzt, ihre tiefſte Seele hätte
ſich ihm vielleicht geöffnet, ſie hätte auch ihn geliebt.
Sie haben Jahre zuſammengelebt, ſind nebeneinander
gegangen, ihre Seelen wußten nichts von einander.
Dem Leibe nach Gattin und Mutter iſt ihre Seele
ein Mädchen geblieben. Er hat die tiefern Bedürfniſſe
ihres Herzens nicht geweckt, er kannte ſie nicht;
er hätte ſie nicht befriedigen können. Er erkennt ſie
erſt, wie ſie ſich einem Fremden zuwenden. Er fühlt
erſt, was er beſaß, ohne es zu haben, nun es einem
Andern gehört. Mit welcher Empfindung ſieht er die
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Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Frankfurt (Main), 1856, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_himmel_1856/115>, abgerufen am 24.11.2024.
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