lage einer Ableitung gelten lassen, ohne uns deren In- halt ganz klar zu machen.
Im Entwickelungsgange der Wissenschaft kommt es oft vor, dass ein neues Princip, welches ein Forscher in einer Thatsache erblickt, nicht sofort in seiner vollen Allgemeinheit erkannt und geläufig wird. Es werden dann, wie billig und natürlich, alle Mittel, welche helfen können, aufgeboten. Es werden die verschiedensten Thatsachen, in welchen die Forscher das Princip noch gar nicht erkennen, obgleich es in denselben enthalten ist, welche Thatsachen aber dafür von anderer Seite geläufiger sind, zur Stütze der neuen Auffassung heran- gezogen. Der reifen Wissenschaft ziemt es nicht, sich durch solche Vorgänge täuschen zu lassen. Wenn wir ein Princip, welches nicht bewiesen, aber als bestehend erkannt werden kann, durch alle Thatsachen klar hin- durchsehen, so sind wir in der widerspruchslosen Auf- fassung der Natur viel weiter gekommen, als wenn wir uns durch einen Scheinbeweis imponiren lassen. Haben wir diesen Standpunkt gewonnen, so sehen wir die Lagrange'sche Ableitung allerdings mit andern Augen an; sie interessirt uns aber noch immer, und erregt unser Gefallen dadurch, dass sie die Gleichartigkeit der einfachen und complicirten Fälle fühlbar macht.
15. Maupertuis hat einen auf das Gleichgewicht be- züglichen interessanten Satz gefunden, welchen er unter dem Namen "Loi de repos" 1740 der pariser Akademie mitgetheilt hat. Derselbe ist 1751 von Euler in den Abhandlungen der berliner Akademie weiter discutirt worden. Wenn wir an einem System unendlich kleine Verschiebungen vornehmen, so entspricht denselben eine Summe virtueller Momente Pp+P'p'+P"p"+ ...., welche nur im Gleichgewichtsfalle =0 ist. Diese Summe ist die den Verschiebungen entsprechende Ar- beit, oder da sie für unendlich kleine Verschiebungen selbst unendlich klein ist, das entsprechende Arbeits- element. Fahren wir mit den Verschiebungen fort, bis eine endliche Verschiebung zu Stande kommt, so sum-
Entwickelung der Principien der Statik.
lage einer Ableitung gelten lassen, ohne uns deren In- halt ganz klar zu machen.
Im Entwickelungsgange der Wissenschaft kommt es oft vor, dass ein neues Princip, welches ein Forscher in einer Thatsache erblickt, nicht sofort in seiner vollen Allgemeinheit erkannt und geläufig wird. Es werden dann, wie billig und natürlich, alle Mittel, welche helfen können, aufgeboten. Es werden die verschiedensten Thatsachen, in welchen die Forscher das Princip noch gar nicht erkennen, obgleich es in denselben enthalten ist, welche Thatsachen aber dafür von anderer Seite geläufiger sind, zur Stütze der neuen Auffassung heran- gezogen. Der reifen Wissenschaft ziemt es nicht, sich durch solche Vorgänge täuschen zu lassen. Wenn wir ein Princip, welches nicht bewiesen, aber als bestehend erkannt werden kann, durch alle Thatsachen klar hin- durchsehen, so sind wir in der widerspruchslosen Auf- fassung der Natur viel weiter gekommen, als wenn wir uns durch einen Scheinbeweis imponiren lassen. Haben wir diesen Standpunkt gewonnen, so sehen wir die Lagrange’sche Ableitung allerdings mit andern Augen an; sie interessirt uns aber noch immer, und erregt unser Gefallen dadurch, dass sie die Gleichartigkeit der einfachen und complicirten Fälle fühlbar macht.
15. Maupertuis hat einen auf das Gleichgewicht be- züglichen interessanten Satz gefunden, welchen er unter dem Namen „Loi de repos‟ 1740 der pariser Akademie mitgetheilt hat. Derselbe ist 1751 von Euler in den Abhandlungen der berliner Akademie weiter discutirt worden. Wenn wir an einem System unendlich kleine Verschiebungen vornehmen, so entspricht denselben eine Summe virtueller Momente Pp+P′p′+P″p″+ ...., welche nur im Gleichgewichtsfalle =0 ist. Diese Summe ist die den Verschiebungen entsprechende Ar- beit, oder da sie für unendlich kleine Verschiebungen selbst unendlich klein ist, das entsprechende Arbeits- element. Fahren wir mit den Verschiebungen fort, bis eine endliche Verschiebung zu Stande kommt, so sum-
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Entwickelung der Principien der Statik.
lage einer Ableitung gelten lassen, ohne uns deren In-
halt ganz klar zu machen.
Im Entwickelungsgange der Wissenschaft kommt es
oft vor, dass ein neues Princip, welches ein Forscher
in einer Thatsache erblickt, nicht sofort in seiner vollen
Allgemeinheit erkannt und geläufig wird. Es werden
dann, wie billig und natürlich, alle Mittel, welche helfen
können, aufgeboten. Es werden die verschiedensten
Thatsachen, in welchen die Forscher das Princip noch
gar nicht erkennen, obgleich es in denselben enthalten
ist, welche Thatsachen aber dafür von anderer Seite
geläufiger sind, zur Stütze der neuen Auffassung heran-
gezogen. Der reifen Wissenschaft ziemt es nicht,
sich durch solche Vorgänge täuschen zu lassen. Wenn wir
ein Princip, welches nicht bewiesen, aber als bestehend
erkannt werden kann, durch alle Thatsachen klar hin-
durchsehen, so sind wir in der widerspruchslosen Auf-
fassung der Natur viel weiter gekommen, als wenn wir
uns durch einen Scheinbeweis imponiren lassen. Haben
wir diesen Standpunkt gewonnen, so sehen wir die
Lagrange’sche Ableitung allerdings mit andern Augen
an; sie interessirt uns aber noch immer, und erregt
unser Gefallen dadurch, dass sie die Gleichartigkeit
der einfachen und complicirten Fälle fühlbar macht.
15. Maupertuis hat einen auf das Gleichgewicht be-
züglichen interessanten Satz gefunden, welchen er unter
dem Namen „Loi de repos‟ 1740 der pariser Akademie
mitgetheilt hat. Derselbe ist 1751 von Euler in den
Abhandlungen der berliner Akademie weiter discutirt
worden. Wenn wir an einem System unendlich kleine
Verschiebungen vornehmen, so entspricht denselben eine
Summe virtueller Momente Pp+P′p′+P″p″+ ....,
welche nur im Gleichgewichtsfalle =0 ist. Diese
Summe ist die den Verschiebungen entsprechende Ar-
beit, oder da sie für unendlich kleine Verschiebungen
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Mach, Ernst: Die Mechanik in ihrer Entwicklung. Leipzig, 1883, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mach_mechanik_1883/75>, abgerufen am 21.11.2024.
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