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Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776.

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der gleichschw. Temper. vor der ungleichschw.
§. 234.

Erste Fortsetzung des vorhergehenden Artikels.
Entweder sind die in den Zahlen 1. 2. 3. 4. 5. 6 enthaltnen
musikalischen Verhältnisse die vollkommensten oder nicht. Der
lezte Fall findet wegen der Unmöglichkeit besserer Verhältnisse
nicht statt. Da alle nur mögliche Töne zwischen 2 und 1 ent-
halten sind, und der Raum von 1 zu 2 auf einem Monochord
mit leichter Mühe untersuchet werden kann, so müßten die bes-
sern Verhältnisse mit wenig Mühe entdecket, und alle Opera-
tionen, practische und theoretische, mit diesen entdeckten bes-
sern Verhältnissen, und nicht mit den andern gemachet wer-
den können. Da nun dieser Fall nicht zu gedenken ist, so fol-
get, daß die Zahlen 1. 2. 3. 4. 5. 6 die vollkommensten Jnter-
valle enthalten. So vollkommen aber solche sind, so ist bekannt,
daß man sie in unserm System nicht in ihrer Vollkommen-
heit ausüben kann. Folglich muß ihre Vollkommenheit um
etwas alteriret werden, und es fraget sich, welche Alteration
die beste ist, die, wodurch sie am meisten, oder die, wodurch
sie am wenigsten von ihrer Vollkommenheit verliehren. Na-
türlicher Weise die leztere, da die Musik für die Ohren, und
dasjenige Jntervall schicklicher ist, was sich seiner Vollkem-
menheit mehr, als was sich weniger nähert. Wenn nun keine
einzige Temperatur dieses für unser System zu leisten im Stande
ist, als die gleichschwebende, (das Gegentheil kann nicht er-
wiesen werden,) so ist sie wiederum die vollkommenste von allen
nur möglichen Temperaturen.

§. 235.

Zweyte Fortsetzung des vorhergehenden Artikels.
Die Temperatur ist der Ausübung und nicht der Composition
wegen da. Dem Componisten kömmt es zu, die Vermi-
schung der Con- und Dissonanzen nach seinem Zweck zu ordnen,
und dem Ausführer, die ihm vorgeschriebnen Töne so rein als
möglich auszuüben. Da nun, vermöge des vorhergehenden
§. die höchste Reinigkeit der Töne, wegen der Beschaffenheit
unsers Systems, nicht erhalten werden kann, und keine Töne
besser sind, als die der höchsten Reinigkeit am nächsten kom-

men,
der gleichſchw. Temper. vor der ungleichſchw.
§. 234.

Erſte Fortſetzung des vorhergehenden Artikels.
Entweder ſind die in den Zahlen 1. 2. 3. 4. 5. 6 enthaltnen
muſikaliſchen Verhaͤltniſſe die vollkommenſten oder nicht. Der
lezte Fall findet wegen der Unmoͤglichkeit beſſerer Verhaͤltniſſe
nicht ſtatt. Da alle nur moͤgliche Toͤne zwiſchen 2 und 1 ent-
halten ſind, und der Raum von 1 zu 2 auf einem Monochord
mit leichter Muͤhe unterſuchet werden kann, ſo muͤßten die beſ-
ſern Verhaͤltniſſe mit wenig Muͤhe entdecket, und alle Opera-
tionen, practiſche und theoretiſche, mit dieſen entdeckten beſ-
ſern Verhaͤltniſſen, und nicht mit den andern gemachet wer-
den koͤnnen. Da nun dieſer Fall nicht zu gedenken iſt, ſo fol-
get, daß die Zahlen 1. 2. 3. 4. 5. 6 die vollkommenſten Jnter-
valle enthalten. So vollkommen aber ſolche ſind, ſo iſt bekannt,
daß man ſie in unſerm Syſtem nicht in ihrer Vollkommen-
heit ausuͤben kann. Folglich muß ihre Vollkommenheit um
etwas alteriret werden, und es fraget ſich, welche Alteration
die beſte iſt, die, wodurch ſie am meiſten, oder die, wodurch
ſie am wenigſten von ihrer Vollkommenheit verliehren. Na-
tuͤrlicher Weiſe die leztere, da die Muſik fuͤr die Ohren, und
dasjenige Jntervall ſchicklicher iſt, was ſich ſeiner Vollkem-
menheit mehr, als was ſich weniger naͤhert. Wenn nun keine
einzige Temperatur dieſes fuͤr unſer Syſtem zu leiſten im Stande
iſt, als die gleichſchwebende, (das Gegentheil kann nicht er-
wieſen werden,) ſo iſt ſie wiederum die vollkommenſte von allen
nur moͤglichen Temperaturen.

§. 235.

Zweyte Fortſetzung des vorhergehenden Artikels.
Die Temperatur iſt der Ausuͤbung und nicht der Compoſition
wegen da. Dem Componiſten koͤmmt es zu, die Vermi-
ſchung der Con- und Diſſonanzen nach ſeinem Zweck zu ordnen,
und dem Ausfuͤhrer, die ihm vorgeſchriebnen Toͤne ſo rein als
moͤglich auszuuͤben. Da nun, vermoͤge des vorhergehenden
§. die hoͤchſte Reinigkeit der Toͤne, wegen der Beſchaffenheit
unſers Syſtems, nicht erhalten werden kann, und keine Toͤne
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men,
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[221/0241] der gleichſchw. Temper. vor der ungleichſchw. §. 234. Erſte Fortſetzung des vorhergehenden Artikels. Entweder ſind die in den Zahlen 1. 2. 3. 4. 5. 6 enthaltnen muſikaliſchen Verhaͤltniſſe die vollkommenſten oder nicht. Der lezte Fall findet wegen der Unmoͤglichkeit beſſerer Verhaͤltniſſe nicht ſtatt. Da alle nur moͤgliche Toͤne zwiſchen 2 und 1 ent- halten ſind, und der Raum von 1 zu 2 auf einem Monochord mit leichter Muͤhe unterſuchet werden kann, ſo muͤßten die beſ- ſern Verhaͤltniſſe mit wenig Muͤhe entdecket, und alle Opera- tionen, practiſche und theoretiſche, mit dieſen entdeckten beſ- ſern Verhaͤltniſſen, und nicht mit den andern gemachet wer- den koͤnnen. Da nun dieſer Fall nicht zu gedenken iſt, ſo fol- get, daß die Zahlen 1. 2. 3. 4. 5. 6 die vollkommenſten Jnter- valle enthalten. So vollkommen aber ſolche ſind, ſo iſt bekannt, daß man ſie in unſerm Syſtem nicht in ihrer Vollkommen- heit ausuͤben kann. Folglich muß ihre Vollkommenheit um etwas alteriret werden, und es fraget ſich, welche Alteration die beſte iſt, die, wodurch ſie am meiſten, oder die, wodurch ſie am wenigſten von ihrer Vollkommenheit verliehren. Na- tuͤrlicher Weiſe die leztere, da die Muſik fuͤr die Ohren, und dasjenige Jntervall ſchicklicher iſt, was ſich ſeiner Vollkem- menheit mehr, als was ſich weniger naͤhert. Wenn nun keine einzige Temperatur dieſes fuͤr unſer Syſtem zu leiſten im Stande iſt, als die gleichſchwebende, (das Gegentheil kann nicht er- wieſen werden,) ſo iſt ſie wiederum die vollkommenſte von allen nur moͤglichen Temperaturen. §. 235. Zweyte Fortſetzung des vorhergehenden Artikels. Die Temperatur iſt der Ausuͤbung und nicht der Compoſition wegen da. Dem Componiſten koͤmmt es zu, die Vermi- ſchung der Con- und Diſſonanzen nach ſeinem Zweck zu ordnen, und dem Ausfuͤhrer, die ihm vorgeſchriebnen Toͤne ſo rein als moͤglich auszuuͤben. Da nun, vermoͤge des vorhergehenden §. die hoͤchſte Reinigkeit der Toͤne, wegen der Beſchaffenheit unſers Syſtems, nicht erhalten werden kann, und keine Toͤne beſſer ſind, als die der hoͤchſten Reinigkeit am naͤchſten kom- men,

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Zitationshilfe: Marpurg, Friedrich Wilhelm: Versuch über die musikalische Temperatur. Breslau, 1776, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marpurg_versuch_1776/241>, abgerufen am 23.11.2024.