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Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905.

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Aber wie verhängnisvoll verkehrt, wie absolut falsch ist
nun die Folgerung, die man für die weibliche Bildung aus
dieser Grundforderung zieht! Ich sagte schon, es fällt dem
klügsten, gebildetsten Manne schwer, die Frau intellektuell zu
verstehen. In seiner Seele spiegeln sich klar nur die Gegen-
sätzlichkeiten unsrer Natur, die sein Fühlen erregen und ihn
treiben, bei uns Ergänzung zu suchen. Dagegen wird er
schwer dem Gleichen in uns gerecht, von dem Schleiermacher
sagt: "Ich glaube an die unendliche Menschheit, die da war,
ehe sie die Hülle der Männlichkeit oder Weiblichkeit annahm".
Die Lebensgesetze, nach denen die weibliche Psyche sich in-
tellektuell
entwickelt, faßt er offenbar außerordentlich
schwer, und er versteht den weiblichen Intellekt entweder als
etwas zu Gleiches oder als etwas zu Grundverschiedenes im
Verhältnis zum männlichen Geist. Zu grob faßt er die feinen,
durchgehenden Unterschiede, und zu derbe glaubt er sie regu-
lieren zu können. Wie der weibliche Körper bis in jedes
Haar und jede Fingerspitze und jede Zelle hinein eben "weib-
lich" ist, und ist doch Fleisch von seinem Fleisch und Bein von
seinem Bein, so ist auch die Frauenseele bis in jedes Gefühl
und jeden Trieb und jede Vorstellung und jedes Einzelgesetz
der Bewußtseinsvorgänge hinein absolut anders abgetönt als
die männliche Psyche und doch so gleich in jedem Bedürfnis
und aller Entwickelungsfähigkeit. Sie ist geradezu einer Ver-
männlichung gar nicht fähig, höchstens einer Verkümmerung
zur Geschlechtslosigkeit, wenn ihre besten Kräfte brach liegen
gelassen werden. Wenn sich die bedenklichen Erscheinungen
des sog. Mannweibtums in einem Volk zu mehren beginnen,
wie viele jetzt bei uns behaupten wollen, dann hängt das
nicht von männlichen Bildungselementen ab, sondern von einer
allgemeinen tiefbegründeten Volkskrankheit. Wo die Männer
weibisch werden und das Rückgrad verlieren, da werden die
Weiber männisch. Dem hohlen Strebertum, dem Stutzertum,
dem kleinlichen Egoismus und zügellosen Genießen des männ-

Aber wie verhängnisvoll verkehrt, wie absolut falsch ist
nun die Folgerung, die man für die weibliche Bildung aus
dieser Grundforderung zieht! Ich sagte schon, es fällt dem
klügsten, gebildetsten Manne schwer, die Frau intellektuell zu
verstehen. In seiner Seele spiegeln sich klar nur die Gegen-
sätzlichkeiten unsrer Natur, die sein Fühlen erregen und ihn
treiben, bei uns Ergänzung zu suchen. Dagegen wird er
schwer dem Gleichen in uns gerecht, von dem Schleiermacher
sagt: „Ich glaube an die unendliche Menschheit, die da war,
ehe sie die Hülle der Männlichkeit oder Weiblichkeit annahm“.
Die Lebensgesetze, nach denen die weibliche Psyche sich in-
tellektuell
entwickelt, faßt er offenbar außerordentlich
schwer, und er versteht den weiblichen Intellekt entweder als
etwas zu Gleiches oder als etwas zu Grundverschiedenes im
Verhältnis zum männlichen Geist. Zu grob faßt er die feinen,
durchgehenden Unterschiede, und zu derbe glaubt er sie regu-
lieren zu können. Wie der weibliche Körper bis in jedes
Haar und jede Fingerspitze und jede Zelle hinein eben „weib-
lich“ ist, und ist doch Fleisch von seinem Fleisch und Bein von
seinem Bein, so ist auch die Frauenseele bis in jedes Gefühl
und jeden Trieb und jede Vorstellung und jedes Einzelgesetz
der Bewußtseinsvorgänge hinein absolut anders abgetönt als
die männliche Psyche und doch so gleich in jedem Bedürfnis
und aller Entwickelungsfähigkeit. Sie ist geradezu einer Ver-
männlichung gar nicht fähig, höchstens einer Verkümmerung
zur Geschlechtslosigkeit, wenn ihre besten Kräfte brach liegen
gelassen werden. Wenn sich die bedenklichen Erscheinungen
des sog. Mannweibtums in einem Volk zu mehren beginnen,
wie viele jetzt bei uns behaupten wollen, dann hängt das
nicht von männlichen Bildungselementen ab, sondern von einer
allgemeinen tiefbegründeten Volkskrankheit. Wo die Männer
weibisch werden und das Rückgrad verlieren, da werden die
Weiber männisch. Dem hohlen Strebertum, dem Stutzertum,
dem kleinlichen Egoismus und zügellosen Genießen des männ-

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[20/0023] Aber wie verhängnisvoll verkehrt, wie absolut falsch ist nun die Folgerung, die man für die weibliche Bildung aus dieser Grundforderung zieht! Ich sagte schon, es fällt dem klügsten, gebildetsten Manne schwer, die Frau intellektuell zu verstehen. In seiner Seele spiegeln sich klar nur die Gegen- sätzlichkeiten unsrer Natur, die sein Fühlen erregen und ihn treiben, bei uns Ergänzung zu suchen. Dagegen wird er schwer dem Gleichen in uns gerecht, von dem Schleiermacher sagt: „Ich glaube an die unendliche Menschheit, die da war, ehe sie die Hülle der Männlichkeit oder Weiblichkeit annahm“. Die Lebensgesetze, nach denen die weibliche Psyche sich in- tellektuell entwickelt, faßt er offenbar außerordentlich schwer, und er versteht den weiblichen Intellekt entweder als etwas zu Gleiches oder als etwas zu Grundverschiedenes im Verhältnis zum männlichen Geist. Zu grob faßt er die feinen, durchgehenden Unterschiede, und zu derbe glaubt er sie regu- lieren zu können. Wie der weibliche Körper bis in jedes Haar und jede Fingerspitze und jede Zelle hinein eben „weib- lich“ ist, und ist doch Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein, so ist auch die Frauenseele bis in jedes Gefühl und jeden Trieb und jede Vorstellung und jedes Einzelgesetz der Bewußtseinsvorgänge hinein absolut anders abgetönt als die männliche Psyche und doch so gleich in jedem Bedürfnis und aller Entwickelungsfähigkeit. Sie ist geradezu einer Ver- männlichung gar nicht fähig, höchstens einer Verkümmerung zur Geschlechtslosigkeit, wenn ihre besten Kräfte brach liegen gelassen werden. Wenn sich die bedenklichen Erscheinungen des sog. Mannweibtums in einem Volk zu mehren beginnen, wie viele jetzt bei uns behaupten wollen, dann hängt das nicht von männlichen Bildungselementen ab, sondern von einer allgemeinen tiefbegründeten Volkskrankheit. Wo die Männer weibisch werden und das Rückgrad verlieren, da werden die Weiber männisch. Dem hohlen Strebertum, dem Stutzertum, dem kleinlichen Egoismus und zügellosen Genießen des männ-

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Projekt: Texte zur Frauenfrage um 1900 Gießen/Kassel: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-06-11T19:37:41Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Thomas Gloning, Melanie Henß: Bearbeitung der digitalen Edition. (2013-06-11T19:37:41Z)
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Zitationshilfe: Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frauenbildung_1905/23>, abgerufen am 28.03.2024.