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Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905.

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lichen Geschlechts entspricht stets Emanzipationssucht, Unweib-
lichkeit, Unfähigkeit zur Hingabe an das Muttertum bei der
Frau. Wenn bei einem Geschlecht diese Verkümmerungserschei-
nungen stärker zu Tage treten als beim andern, so würde
das höchstens ein Beweis dafür sein, daß es momentan unter
noch naturwidrigere Lebensbedingungen gestellt ist als das
andre. Aber an Bildungseinflüssen liegt es nicht. So wenig
es männliche Speisen gibt, die den Körper männlich machen,
wenn er nicht männlich war, oder weibliche Speisen, die zarte
Weiblichkeit produzieren, so wenig gibt es ein Wissen, oder
eine Kraftübung, die den Geist männlich macht, oder Erkennt-
nisse, die die angeborene Weiblichkeit gefährden könnten in
ihrem Wesen. Sondern soweit Wissen und Erkennen Wahr-
heit
gibt, so weit gibt es Kraft, die innern Anlagen zu
entwickeln; soweit Denken eine Kraftübung ist, wird es
der männlichen wie weiblichen Entwickelung zu gute
kommen; soweit die geistige Entwickelung in falsche Bahnen
geleitet wird, soweit bietet sie die Verkümmerungsgefahr so-
wohl dem männlichen wie dem weiblichen Wesen. Es ist einer
der folgenschwersten psychologischen Irrtümer: Unterricht, Aus-
bildung, wissenschaftliche Arbeit für Schöpferarbeit, statt
für Entwicklelungsarbeit zu erklären. Die Seele ein
unbeschriebenes Blatt, jedem Schreiber preisgegeben, ein leerer
Raum, den weisheittriefende Erzieher und Professoren mit
Vorstellungen füllen können, damit das Getriebe des geistigen
Lebens erwache: da steckt der Irrtum! Wie kann man im
Jahrhundert der Naturwissenschaften, bei unbestrittener Aner-
kennung der biologischen Grundgesetze des Lebens, so heillos
rückständig an der Bildungsfrage herumdoktern, gleich den
alten Quacksalbern, die mit Pillen und Mixturen glaubten
den Krankheiten zu Leibe gehen und durch ihre Kunst im
Menschen beliebig Neues schaffen zu können!

Nimmermehr kann Frauenart durch "männliche" Bildung
gefährdet werden. Unsre Freunde sollten wirklich das Vor-

lichen Geschlechts entspricht stets Emanzipationssucht, Unweib-
lichkeit, Unfähigkeit zur Hingabe an das Muttertum bei der
Frau. Wenn bei einem Geschlecht diese Verkümmerungserschei-
nungen stärker zu Tage treten als beim andern, so würde
das höchstens ein Beweis dafür sein, daß es momentan unter
noch naturwidrigere Lebensbedingungen gestellt ist als das
andre. Aber an Bildungseinflüssen liegt es nicht. So wenig
es männliche Speisen gibt, die den Körper männlich machen,
wenn er nicht männlich war, oder weibliche Speisen, die zarte
Weiblichkeit produzieren, so wenig gibt es ein Wissen, oder
eine Kraftübung, die den Geist männlich macht, oder Erkennt-
nisse, die die angeborene Weiblichkeit gefährden könnten in
ihrem Wesen. Sondern soweit Wissen und Erkennen Wahr-
heit
gibt, so weit gibt es Kraft, die innern Anlagen zu
entwickeln; soweit Denken eine Kraftübung ist, wird es
der männlichen wie weiblichen Entwickelung zu gute
kommen; soweit die geistige Entwickelung in falsche Bahnen
geleitet wird, soweit bietet sie die Verkümmerungsgefahr so-
wohl dem männlichen wie dem weiblichen Wesen. Es ist einer
der folgenschwersten psychologischen Irrtümer: Unterricht, Aus-
bildung, wissenschaftliche Arbeit für Schöpferarbeit, statt
für Entwicklelungsarbeit zu erklären. Die Seele ein
unbeschriebenes Blatt, jedem Schreiber preisgegeben, ein leerer
Raum, den weisheittriefende Erzieher und Professoren mit
Vorstellungen füllen können, damit das Getriebe des geistigen
Lebens erwache: da steckt der Irrtum! Wie kann man im
Jahrhundert der Naturwissenschaften, bei unbestrittener Aner-
kennung der biologischen Grundgesetze des Lebens, so heillos
rückständig an der Bildungsfrage herumdoktern, gleich den
alten Quacksalbern, die mit Pillen und Mixturen glaubten
den Krankheiten zu Leibe gehen und durch ihre Kunst im
Menschen beliebig Neues schaffen zu können!

Nimmermehr kann Frauenart durch „männliche“ Bildung
gefährdet werden. Unsre Freunde sollten wirklich das Vor-

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[21/0024] lichen Geschlechts entspricht stets Emanzipationssucht, Unweib- lichkeit, Unfähigkeit zur Hingabe an das Muttertum bei der Frau. Wenn bei einem Geschlecht diese Verkümmerungserschei- nungen stärker zu Tage treten als beim andern, so würde das höchstens ein Beweis dafür sein, daß es momentan unter noch naturwidrigere Lebensbedingungen gestellt ist als das andre. Aber an Bildungseinflüssen liegt es nicht. So wenig es männliche Speisen gibt, die den Körper männlich machen, wenn er nicht männlich war, oder weibliche Speisen, die zarte Weiblichkeit produzieren, so wenig gibt es ein Wissen, oder eine Kraftübung, die den Geist männlich macht, oder Erkennt- nisse, die die angeborene Weiblichkeit gefährden könnten in ihrem Wesen. Sondern soweit Wissen und Erkennen Wahr- heit gibt, so weit gibt es Kraft, die innern Anlagen zu entwickeln; soweit Denken eine Kraftübung ist, wird es der männlichen wie weiblichen Entwickelung zu gute kommen; soweit die geistige Entwickelung in falsche Bahnen geleitet wird, soweit bietet sie die Verkümmerungsgefahr so- wohl dem männlichen wie dem weiblichen Wesen. Es ist einer der folgenschwersten psychologischen Irrtümer: Unterricht, Aus- bildung, wissenschaftliche Arbeit für Schöpferarbeit, statt für Entwicklelungsarbeit zu erklären. Die Seele ein unbeschriebenes Blatt, jedem Schreiber preisgegeben, ein leerer Raum, den weisheittriefende Erzieher und Professoren mit Vorstellungen füllen können, damit das Getriebe des geistigen Lebens erwache: da steckt der Irrtum! Wie kann man im Jahrhundert der Naturwissenschaften, bei unbestrittener Aner- kennung der biologischen Grundgesetze des Lebens, so heillos rückständig an der Bildungsfrage herumdoktern, gleich den alten Quacksalbern, die mit Pillen und Mixturen glaubten den Krankheiten zu Leibe gehen und durch ihre Kunst im Menschen beliebig Neues schaffen zu können! Nimmermehr kann Frauenart durch „männliche“ Bildung gefährdet werden. Unsre Freunde sollten wirklich das Vor-

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Zitationshilfe: Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frauenbildung_1905/24>, abgerufen am 19.04.2024.