Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905.urteil überwinden, als hätten sie die Aufgabe, Weiblichkeit urteil überwinden, als hätten sie die Aufgabe, Weiblichkeit <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0025" n="22"/> urteil überwinden, als hätten <hi rendition="#g">sie</hi> die Aufgabe, Weiblichkeit<lb/> im Mädchen zu züchten; als müßten <hi rendition="#g">sie</hi> die Rationen des<lb/> Wissens so vorschneiden, daß ja nicht plötzlich Männlichkeit<lb/> des Wesens herauswüchse. Denn Männlichkeit ist doch nicht<lb/> eine höhere Potenz, ein weiterer Entwickelungsgrad der Weib-<lb/> lichkeit, sondern ein in der Grundanlage verschiedener Gegen-<lb/> satz, der sich jedenfalls vor der Zeit entscheidet und heraus-<lb/> bildet, in der die Schulmeister mit ihren ABCbüchern an<lb/> das junge Wesen herankönnen. Darum ist es eine lächerlich<lb/> veraltete Anschauung, deren gröblicher Irrtum schon durch<lb/> die Elemente naturwissenschaftlicher Erkenntnisse aufgedeckt<lb/> wird, Wissenschaft und Entwickelung des Intellekts für dem<lb/> männlichen Wesen naturentsprechend, Halbbildung und geistige<lb/> Unklarheit für die Atmosphäre wahrer Weiblichkeit zu er-<lb/> klären. Der Verwechselung von Art- mit Gradunterschieden<lb/> bei der Auffassung der psychischen Geschlechtseigentümlichkeiten<lb/> haben wir es zu danken, daß man niemals, außer in den<lb/> technischen, also mehr körperlichen Unterrichtsfächern, den Mäd-<lb/> chen einen andern Unterricht zu geben wußte <hi rendition="#g">als den<lb/> Knaben, trotz aller Theorie über weibliche<lb/> Eigentümlichkeiten</hi>. In Stoffen, wie in Lehr- und<lb/> Erziehungsmethoden mußten wir durch dick und dünn die Irr-<lb/> fahrten der Knabenbildung mitmachen, nur war beides, Stoff<lb/> und Methoden, quantitativ und qualitativ geringer und ober-<lb/> flächlicher und krauser. Nicht eine lebendige Beziehung<lb/> zwischen den Lebensinteressen des Mädchens und dem verwäs-<lb/> serten Bildungsbrei wußte man in dem Mädchenunterricht<lb/> recht zu schaffen, und das hängt mit noch anderem eng zu-<lb/> sammen. Denn noch eine andre Konsequenz zog man nicht für<lb/> die Mädchenbildung. Obwohl man weiß, daß die Familie<lb/> nicht für die Bildung ihrer Töchter sorgen kann, erklärte man<lb/> Mädchenbildung für Privatsache und überließ sie dem Zufall<lb/> der Privatindustrie, dem Unternehmertum von mehr oder we-<lb/> niger qualifizierten Frauen und Männern, die, hätten sie sich<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [22/0025]
urteil überwinden, als hätten sie die Aufgabe, Weiblichkeit
im Mädchen zu züchten; als müßten sie die Rationen des
Wissens so vorschneiden, daß ja nicht plötzlich Männlichkeit
des Wesens herauswüchse. Denn Männlichkeit ist doch nicht
eine höhere Potenz, ein weiterer Entwickelungsgrad der Weib-
lichkeit, sondern ein in der Grundanlage verschiedener Gegen-
satz, der sich jedenfalls vor der Zeit entscheidet und heraus-
bildet, in der die Schulmeister mit ihren ABCbüchern an
das junge Wesen herankönnen. Darum ist es eine lächerlich
veraltete Anschauung, deren gröblicher Irrtum schon durch
die Elemente naturwissenschaftlicher Erkenntnisse aufgedeckt
wird, Wissenschaft und Entwickelung des Intellekts für dem
männlichen Wesen naturentsprechend, Halbbildung und geistige
Unklarheit für die Atmosphäre wahrer Weiblichkeit zu er-
klären. Der Verwechselung von Art- mit Gradunterschieden
bei der Auffassung der psychischen Geschlechtseigentümlichkeiten
haben wir es zu danken, daß man niemals, außer in den
technischen, also mehr körperlichen Unterrichtsfächern, den Mäd-
chen einen andern Unterricht zu geben wußte als den
Knaben, trotz aller Theorie über weibliche
Eigentümlichkeiten. In Stoffen, wie in Lehr- und
Erziehungsmethoden mußten wir durch dick und dünn die Irr-
fahrten der Knabenbildung mitmachen, nur war beides, Stoff
und Methoden, quantitativ und qualitativ geringer und ober-
flächlicher und krauser. Nicht eine lebendige Beziehung
zwischen den Lebensinteressen des Mädchens und dem verwäs-
serten Bildungsbrei wußte man in dem Mädchenunterricht
recht zu schaffen, und das hängt mit noch anderem eng zu-
sammen. Denn noch eine andre Konsequenz zog man nicht für
die Mädchenbildung. Obwohl man weiß, daß die Familie
nicht für die Bildung ihrer Töchter sorgen kann, erklärte man
Mädchenbildung für Privatsache und überließ sie dem Zufall
der Privatindustrie, dem Unternehmertum von mehr oder we-
niger qualifizierten Frauen und Männern, die, hätten sie sich
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(2013-06-11T19:37:41Z)
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Thomas Gloning, Melanie Henß: Bearbeitung der digitalen Edition.
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