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Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905.

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über und hinüber strömen. Der Mann mit seiner intellektu-
ellen Geschlossenheit findet von sich aus nicht mehr die bele-
bende Gefühlswärme; das Weib mit seiner lohenden und
sprudelnden Gefühlskraft findet nicht die nötige intellektuelle
Klärung, daß in beiden ein gemeinsamer lebendiger Wille zum
sittlichen Leben mit Ewigkeitsgehalt erwachsen könnte. Denn
die männliche, wie die weibliche Psyche sind zwar vollwertig
ausgestaltet mit Entwickelungsfähigkeiten. Aber sie sind gegen-
sätzlich abgetönt, so daß beim Manne das vorwärtsdrängende
Erkennen, beim Weibe das tiefe, fühlende Umfassen den
Grundton der Seele zu bilden pflegt. Den tiefsten Lebensge-
setzen der organischen Natur entsprechend, die immer in Kon-
trasten und durch Polarisation wirkt, ist natürlich bei den
höchst organisierten Geschöpfen, den Menschen, diese Polarisa-
tion, dieses gegenseitige Ergänzungsbedürfnis bis in die fein-
sten Fibern des Wesens hinein am höchsten entwickelt. Nur
wenn das den Geschlechtern angeborene natürliche Verhältnis
der Ergänzungsfähigkeit und der gegenseitigen belebenden
Einwirkung weiter entwickelt und auf allen Kulturstufen in
Harmonie erhalten wird, ist eine gesunde Menschheitskultur
möglich. Das ist versäumt, immer mehr, bis es endlich ins
Bewußtsein treten mußte. Daran krankt, wenn das
Versäumte nicht bald nachgeholt wird, unsre deutsche Kultur
immer unheilbarer und würde daran zu Grunde gehen müssen,
wenn von keiner Seite Hilfe kommt. Das Bedürfnis unsres
Volkes ist dabei ein doppeltes:

Die männliche Geisteskultur muß aus der intellek-
tuellen Trockenheit erlöst und mit lebendig strömenden Ge-
fühlswerten und kraftvollem Wollen erfüllt werden. Sie
muß zurückgerissen werden aus dem dünnen Aether des ab-
strakten Gelehrtentums einerseits, der dumpfen Streberschwüle
der Berechtigungen andrerseits in die gesunde, frühlingwe-
hende Luft einer lebendigen Persönlichkeitsbildung von har-
monischem Wert. Das ist nur möglich, wenn aus der geistigen

über und hinüber strömen. Der Mann mit seiner intellektu-
ellen Geschlossenheit findet von sich aus nicht mehr die bele-
bende Gefühlswärme; das Weib mit seiner lohenden und
sprudelnden Gefühlskraft findet nicht die nötige intellektuelle
Klärung, daß in beiden ein gemeinsamer lebendiger Wille zum
sittlichen Leben mit Ewigkeitsgehalt erwachsen könnte. Denn
die männliche, wie die weibliche Psyche sind zwar vollwertig
ausgestaltet mit Entwickelungsfähigkeiten. Aber sie sind gegen-
sätzlich abgetönt, so daß beim Manne das vorwärtsdrängende
Erkennen, beim Weibe das tiefe, fühlende Umfassen den
Grundton der Seele zu bilden pflegt. Den tiefsten Lebensge-
setzen der organischen Natur entsprechend, die immer in Kon-
trasten und durch Polarisation wirkt, ist natürlich bei den
höchst organisierten Geschöpfen, den Menschen, diese Polarisa-
tion, dieses gegenseitige Ergänzungsbedürfnis bis in die fein-
sten Fibern des Wesens hinein am höchsten entwickelt. Nur
wenn das den Geschlechtern angeborene natürliche Verhältnis
der Ergänzungsfähigkeit und der gegenseitigen belebenden
Einwirkung weiter entwickelt und auf allen Kulturstufen in
Harmonie erhalten wird, ist eine gesunde Menschheitskultur
möglich. Das ist versäumt, immer mehr, bis es endlich ins
Bewußtsein treten mußte. Daran krankt, wenn das
Versäumte nicht bald nachgeholt wird, unsre deutsche Kultur
immer unheilbarer und würde daran zu Grunde gehen müssen,
wenn von keiner Seite Hilfe kommt. Das Bedürfnis unsres
Volkes ist dabei ein doppeltes:

Die männliche Geisteskultur muß aus der intellek-
tuellen Trockenheit erlöst und mit lebendig strömenden Ge-
fühlswerten und kraftvollem Wollen erfüllt werden. Sie
muß zurückgerissen werden aus dem dünnen Aether des ab-
strakten Gelehrtentums einerseits, der dumpfen Streberschwüle
der Berechtigungen andrerseits in die gesunde, frühlingwe-
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monischem Wert. Das ist nur möglich, wenn aus der geistigen

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[26/0029] über und hinüber strömen. Der Mann mit seiner intellektu- ellen Geschlossenheit findet von sich aus nicht mehr die bele- bende Gefühlswärme; das Weib mit seiner lohenden und sprudelnden Gefühlskraft findet nicht die nötige intellektuelle Klärung, daß in beiden ein gemeinsamer lebendiger Wille zum sittlichen Leben mit Ewigkeitsgehalt erwachsen könnte. Denn die männliche, wie die weibliche Psyche sind zwar vollwertig ausgestaltet mit Entwickelungsfähigkeiten. Aber sie sind gegen- sätzlich abgetönt, so daß beim Manne das vorwärtsdrängende Erkennen, beim Weibe das tiefe, fühlende Umfassen den Grundton der Seele zu bilden pflegt. Den tiefsten Lebensge- setzen der organischen Natur entsprechend, die immer in Kon- trasten und durch Polarisation wirkt, ist natürlich bei den höchst organisierten Geschöpfen, den Menschen, diese Polarisa- tion, dieses gegenseitige Ergänzungsbedürfnis bis in die fein- sten Fibern des Wesens hinein am höchsten entwickelt. Nur wenn das den Geschlechtern angeborene natürliche Verhältnis der Ergänzungsfähigkeit und der gegenseitigen belebenden Einwirkung weiter entwickelt und auf allen Kulturstufen in Harmonie erhalten wird, ist eine gesunde Menschheitskultur möglich. Das ist versäumt, immer mehr, bis es endlich ins Bewußtsein treten mußte. Daran krankt, wenn das Versäumte nicht bald nachgeholt wird, unsre deutsche Kultur immer unheilbarer und würde daran zu Grunde gehen müssen, wenn von keiner Seite Hilfe kommt. Das Bedürfnis unsres Volkes ist dabei ein doppeltes: Die männliche Geisteskultur muß aus der intellek- tuellen Trockenheit erlöst und mit lebendig strömenden Ge- fühlswerten und kraftvollem Wollen erfüllt werden. Sie muß zurückgerissen werden aus dem dünnen Aether des ab- strakten Gelehrtentums einerseits, der dumpfen Streberschwüle der Berechtigungen andrerseits in die gesunde, frühlingwe- hende Luft einer lebendigen Persönlichkeitsbildung von har- monischem Wert. Das ist nur möglich, wenn aus der geistigen

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Zitationshilfe: Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frauenbildung_1905/29>, abgerufen am 20.04.2024.