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Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905.

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sich und ihr Kind gerettet? "Ich will ihm eine Gehilfin
schaffen, die um ihn sei," nicht "eine hilflose Last am Halse,
die ihn niederziehen muß", sagte Gott, als er das Weib er-
gänzend neben den Mann stellte.

Wenn man oberflächlich das Hasten und Treiben in
unserm Leben ansieht, die altunheimliche Macht des Goldes,
die Herrschaft des Genusses, die Jagd nach der Ehre und dem,
was man so obenhin "Glück" nennt, das Streben nach
Karriere, nach Gunst der Großen, nach Macht und dem Platz
an der Sonne, dann scheint es wohl, daß der Daseinskampf
sich für die meisten in dem wirtschaftlichen Kampf erschöpft.
Und wahrhaftig, hart und verwickelt genug ist er, Menschen-
kraft genug verbraucht er, und genug Menschenglück verschlingt
und zerstört er. Er formt die sozialen Probleme, gruppiert
die Parteien und lenkt fast ausschließlich das politische Leben
der Völker. Alle idealen Ziele und mit dem Brustton ge-
sinnungstüchtiger Ueberzeugung ausgespielten sittlichen Forde-
rungen scheinen nur Schleier über dem nackten, baren Dies-
seitskampf:

"Aus dieser Erde quillen meine Freuden,Und diese Sonne scheinet meinen Leiden."

Der derbe Realpolitiker gesteht es auch offen zu, daß er
die geistigen und sittlichen Probleme nur für Begleiterscheinungen
dieses realen Ringens hält, für unfaßbare Phantome, an
denen der Gesunde sich nicht zergrübelt, die nur den im Kampf
Untüchtigen eine Scheinbeschäftigung geben, den über dem ge-
meinen Kampf stehenden die Zeit vertreiben oder den allzu
differenzierten, in Zersetzung übergegangenen Naturen ein
krankhaftes Bedürfnis seien. Blicken wir aber tiefer, ja,
vermöchten wir mit einem Christusauge im Innern der Men-
schen und in der Volksseele zu lesen, dann würden wir hinter
dem Hasten nach Befriedigung den Durst nach Frieden er-
kennen; wir würden mit den Ohren des Heilandes in dem

sich und ihr Kind gerettet? „Ich will ihm eine Gehilfin
schaffen, die um ihn sei,“ nicht „eine hilflose Last am Halse,
die ihn niederziehen muß“, sagte Gott, als er das Weib er-
gänzend neben den Mann stellte.

Wenn man oberflächlich das Hasten und Treiben in
unserm Leben ansieht, die altunheimliche Macht des Goldes,
die Herrschaft des Genusses, die Jagd nach der Ehre und dem,
was man so obenhin „Glück“ nennt, das Streben nach
Karriere, nach Gunst der Großen, nach Macht und dem Platz
an der Sonne, dann scheint es wohl, daß der Daseinskampf
sich für die meisten in dem wirtschaftlichen Kampf erschöpft.
Und wahrhaftig, hart und verwickelt genug ist er, Menschen-
kraft genug verbraucht er, und genug Menschenglück verschlingt
und zerstört er. Er formt die sozialen Probleme, gruppiert
die Parteien und lenkt fast ausschließlich das politische Leben
der Völker. Alle idealen Ziele und mit dem Brustton ge-
sinnungstüchtiger Ueberzeugung ausgespielten sittlichen Forde-
rungen scheinen nur Schleier über dem nackten, baren Dies-
seitskampf:

„Aus dieser Erde quillen meine Freuden,Und diese Sonne scheinet meinen Leiden.“

Der derbe Realpolitiker gesteht es auch offen zu, daß er
die geistigen und sittlichen Probleme nur für Begleiterscheinungen
dieses realen Ringens hält, für unfaßbare Phantome, an
denen der Gesunde sich nicht zergrübelt, die nur den im Kampf
Untüchtigen eine Scheinbeschäftigung geben, den über dem ge-
meinen Kampf stehenden die Zeit vertreiben oder den allzu
differenzierten, in Zersetzung übergegangenen Naturen ein
krankhaftes Bedürfnis seien. Blicken wir aber tiefer, ja,
vermöchten wir mit einem Christusauge im Innern der Men-
schen und in der Volksseele zu lesen, dann würden wir hinter
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[3/0006] sich und ihr Kind gerettet? „Ich will ihm eine Gehilfin schaffen, die um ihn sei,“ nicht „eine hilflose Last am Halse, die ihn niederziehen muß“, sagte Gott, als er das Weib er- gänzend neben den Mann stellte. Wenn man oberflächlich das Hasten und Treiben in unserm Leben ansieht, die altunheimliche Macht des Goldes, die Herrschaft des Genusses, die Jagd nach der Ehre und dem, was man so obenhin „Glück“ nennt, das Streben nach Karriere, nach Gunst der Großen, nach Macht und dem Platz an der Sonne, dann scheint es wohl, daß der Daseinskampf sich für die meisten in dem wirtschaftlichen Kampf erschöpft. Und wahrhaftig, hart und verwickelt genug ist er, Menschen- kraft genug verbraucht er, und genug Menschenglück verschlingt und zerstört er. Er formt die sozialen Probleme, gruppiert die Parteien und lenkt fast ausschließlich das politische Leben der Völker. Alle idealen Ziele und mit dem Brustton ge- sinnungstüchtiger Ueberzeugung ausgespielten sittlichen Forde- rungen scheinen nur Schleier über dem nackten, baren Dies- seitskampf: „Aus dieser Erde quillen meine Freuden, Und diese Sonne scheinet meinen Leiden.“ Der derbe Realpolitiker gesteht es auch offen zu, daß er die geistigen und sittlichen Probleme nur für Begleiterscheinungen dieses realen Ringens hält, für unfaßbare Phantome, an denen der Gesunde sich nicht zergrübelt, die nur den im Kampf Untüchtigen eine Scheinbeschäftigung geben, den über dem ge- meinen Kampf stehenden die Zeit vertreiben oder den allzu differenzierten, in Zersetzung übergegangenen Naturen ein krankhaftes Bedürfnis seien. Blicken wir aber tiefer, ja, vermöchten wir mit einem Christusauge im Innern der Men- schen und in der Volksseele zu lesen, dann würden wir hinter dem Hasten nach Befriedigung den Durst nach Frieden er- kennen; wir würden mit den Ohren des Heilandes in dem

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Projekt: Texte zur Frauenfrage um 1900 Gießen/Kassel: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-06-11T19:37:41Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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Zitationshilfe: Martin, Marie: Wahre Frauenbildung. Tübingen 1905, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/martin_frauenbildung_1905/6>, abgerufen am 25.04.2024.