Militärgewalt zu behaupten und die oberste Leitung der Exekutivgewalt wie¬ der zu erobern, sich verurtheilt sah, bewies unwidersprechlich, daß sie die selbst¬ ständige parlamentarische Majorität eingebüßt hatte. Die bloße Macht des Kalenders, der Stundenzeiger gab am 29. Mai das Signal ihrer völligen Auflösung. Mit dem 29. Mai begann das letzte Lebensjahr der Nationalversammlung. Sie mußte sich nun entscheiden für unveränderte Fortdauer oder für Revision der Verfassung. Aber Revision der Verfassung, das hieß nicht nur Herrschaft der Bourgeoisie oder der kleinbürgerlichen Demokratie, Demokratie oder proletarische Anarchie, parlamentarische Repu¬ blik oder Bonaparte, das hieß zugleich Orleans oder Bourbon! So fiel mit¬ ten in das Parlament der Erisapfel, an dem sich der Widerstreit der In¬ teressen, welche die Ordnungspartei in feindliche Fraktionen sonderten, offen entzünden mußte. Die Ordnungspartei war eine Verbindung von hetero¬ genen gesellschaftlichen Substanzen. Die Revisionsfrage erzeugte eine politische Temperatur, worin das Produkt wieder in seine ursprünglichen Bestandtheile zerfiel.
Das Interesse der Bonapartisten an der Revision war einfach. Für sie handelte es sich vor Allem um Abschaffung des Art. 45, der Bonaparte's Wiederwahl untersagte und die Prorogation seiner Gewalt. Nicht minder einfach schien die Stellung der Republikaner. Sie verwarfen unbedingt jede Revision, sie sahen in ihr eine allseitige Verschwörung gegen die Republik. Da sie über mehr als ein Viertel der Stimmen in der National¬ versammlung verfügten, und verfassungsmäßig drei Viertel der Stimmen zum rechtsgültigen Beschlusse der Revision und zur Einberufung einer revi¬ direnden Versammlung erfordert waren, brauchten sie nur ihre Stim¬ men zu zählen, um des Sieges sicher zu sein. Und sie waren des Sieges sicher.
Diesen klaren Stellungen gegenüber befand sich die Partei der Ord¬ nung in unentwirrbaren Widersprüchen. Verwarf sie die Revision, so ge¬ fährdete sie den Statusquo, indem sie Bonaparte nur noch einen Ausweg übrig ließ, den der Gewalt, indem sie Frankreich am 2. Mai 1852, im Augenblicke der Entscheidung, der revolutionären Anarchie preisgab, mit einem Präsidenten, der seine Autorität verlor, mit einem Parlamente, das sie längst nicht mehr besaß, und mit einem Volke, das sie wieder zu erobern dachte. Stimmte sie für die verfassungsmäßige Revision, so wußte sie, daß
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Militärgewalt zu behaupten und die oberſte Leitung der Exekutivgewalt wie¬ der zu erobern, ſich verurtheilt ſah, bewies unwiderſprechlich, daß ſie die ſelbſt¬ ſtändige parlamentariſche Majorität eingebüßt hatte. Die bloße Macht des Kalenders, der Stundenzeiger gab am 29. Mai das Signal ihrer völligen Auflöſung. Mit dem 29. Mai begann das letzte Lebensjahr der Nationalverſammlung. Sie mußte ſich nun entſcheiden für unveränderte Fortdauer oder für Reviſion der Verfaſſung. Aber Reviſion der Verfaſſung, das hieß nicht nur Herrſchaft der Bourgeoiſie oder der kleinbürgerlichen Demokratie, Demokratie oder proletariſche Anarchie, parlamentariſche Repu¬ blik oder Bonaparte, das hieß zugleich Orleans oder Bourbon! So fiel mit¬ ten in das Parlament der Erisapfel, an dem ſich der Widerſtreit der In¬ tereſſen, welche die Ordnungspartei in feindliche Fraktionen ſonderten, offen entzünden mußte. Die Ordnungspartei war eine Verbindung von hetero¬ genen geſellſchaftlichen Subſtanzen. Die Reviſionsfrage erzeugte eine politiſche Temperatur, worin das Produkt wieder in ſeine urſprünglichen Beſtandtheile zerfiel.
Das Intereſſe der Bonapartiſten an der Reviſion war einfach. Für ſie handelte es ſich vor Allem um Abſchaffung des Art. 45, der Bonaparte's Wiederwahl unterſagte und die Prorogation ſeiner Gewalt. Nicht minder einfach ſchien die Stellung der Republikaner. Sie verwarfen unbedingt jede Reviſion, ſie ſahen in ihr eine allſeitige Verſchwörung gegen die Republik. Da ſie über mehr als ein Viertel der Stimmen in der National¬ verſammlung verfügten, und verfaſſungsmäßig drei Viertel der Stimmen zum rechtsgültigen Beſchluſſe der Reviſion und zur Einberufung einer revi¬ direnden Verſammlung erfordert waren, brauchten ſie nur ihre Stim¬ men zu zählen, um des Sieges ſicher zu ſein. Und ſie waren des Sieges ſicher.
Dieſen klaren Stellungen gegenüber befand ſich die Partei der Ord¬ nung in unentwirrbaren Widerſprüchen. Verwarf ſie die Reviſion, ſo ge¬ fährdete ſie den Statusquo, indem ſie Bonaparte nur noch einen Ausweg übrig ließ, den der Gewalt, indem ſie Frankreich am 2. Mai 1852, im Augenblicke der Entſcheidung, der revolutionären Anarchie preisgab, mit einem Präſidenten, der ſeine Autorität verlor, mit einem Parlamente, das ſie längſt nicht mehr beſaß, und mit einem Volke, das ſie wieder zu erobern dachte. Stimmte ſie für die verfaſſungsmäßige Reviſion, ſo wußte ſie, daß
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Militärgewalt zu behaupten und die oberſte Leitung der Exekutivgewalt wie¬
der zu erobern, ſich verurtheilt ſah, bewies unwiderſprechlich, daß ſie die ſelbſt¬
ſtändige parlamentariſche Majorität eingebüßt hatte. Die bloße
Macht des Kalenders, der Stundenzeiger gab am 29. Mai das Signal ihrer
völligen Auflöſung. Mit dem 29. Mai begann das letzte Lebensjahr der
Nationalverſammlung. Sie mußte ſich nun entſcheiden für unveränderte
Fortdauer oder für Reviſion der Verfaſſung. Aber Reviſion der Verfaſſung,
das hieß nicht nur Herrſchaft der Bourgeoiſie oder der kleinbürgerlichen
Demokratie, Demokratie oder proletariſche Anarchie, parlamentariſche Repu¬
blik oder Bonaparte, das hieß zugleich Orleans oder Bourbon! So fiel mit¬
ten in das Parlament der Erisapfel, an dem ſich der Widerſtreit der In¬
tereſſen, welche die Ordnungspartei in feindliche Fraktionen ſonderten, offen
entzünden mußte. Die Ordnungspartei war eine Verbindung von hetero¬
genen geſellſchaftlichen Subſtanzen. Die Reviſionsfrage erzeugte eine
politiſche Temperatur, worin das Produkt wieder in ſeine urſprünglichen
Beſtandtheile zerfiel.
Das Intereſſe der Bonapartiſten an der Reviſion war einfach. Für
ſie handelte es ſich vor Allem um Abſchaffung des Art. 45, der Bonaparte's
Wiederwahl unterſagte und die Prorogation ſeiner Gewalt. Nicht minder
einfach ſchien die Stellung der Republikaner. Sie verwarfen unbedingt jede
Reviſion, ſie ſahen in ihr eine allſeitige Verſchwörung gegen die Republik.
Da ſie über mehr als ein Viertel der Stimmen in der National¬
verſammlung verfügten, und verfaſſungsmäßig drei Viertel der Stimmen
zum rechtsgültigen Beſchluſſe der Reviſion und zur Einberufung einer revi¬
direnden Verſammlung erfordert waren, brauchten ſie nur ihre Stim¬
men zu zählen, um des Sieges ſicher zu ſein. Und ſie waren des
Sieges ſicher.
Dieſen klaren Stellungen gegenüber befand ſich die Partei der Ord¬
nung in unentwirrbaren Widerſprüchen. Verwarf ſie die Reviſion, ſo ge¬
fährdete ſie den Statusquo, indem ſie Bonaparte nur noch einen Ausweg
übrig ließ, den der Gewalt, indem ſie Frankreich am 2. Mai 1852, im
Augenblicke der Entſcheidung, der revolutionären Anarchie preisgab, mit
einem Präſidenten, der ſeine Autorität verlor, mit einem Parlamente, das
ſie längſt nicht mehr beſaß, und mit einem Volke, das ſie wieder zu erobern
dachte. Stimmte ſie für die verfaſſungsmäßige Reviſion, ſo wußte ſie, daß
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Diese zweite, von Marx überarbeitete Fassung des … [mehr]
Diese zweite, von Marx überarbeitete Fassung des "Brumaire" erschien 1869 in Hamburg. Sie ist die erste selbstständige Publikation des Textes, der zuerst als Heft 1 (1851) der Zeitschrift "Die Revolution. Eine Zeitschrift in zwanglosen Heften" erschien, und wurde daher gemäß den Leitlinien des DTA für die Digitalisierung zugrunde gelegt.
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Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. 2. Aufl. Hamburg, 1869, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marx_bonaparte_1869/77>, abgerufen am 02.03.2025.
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