bene Dreiviertel der Stimmenzahl für Revision entscheide. Nach sechstä¬ gigen stürmischen Debatten, am 19. Juli, wurde die Revision, wie vorher¬ zusehn, verworfen. Es stimmten 446 dafür, aber 278 dagegen. Die entschiedenen Orleanisten Thiers, Changarnier etc. stimmten mit den Repu¬ blikanern und der Montagne.
Die Majorität des Parlaments erklärte sich so gegen die Verfassung, aber diese Verfassung selbst erklärte sich für die Minorität, und ihren Beschluß für bindend. Hatte aber die Ordnungspartei nicht am 31. Mai 1850, nicht am 13. Juni 1849 die Verfassung der parlamentarischen Ma¬ jorität untergeordnet? Beruhte ihre ganze bisherige Politik nicht auf der Unterordnung der Verfassungsparagraphen unter die parlamentarischen Majoritätsbeschlüsse? Hatte sie den alttestamentarischen Aberglauben an den Buchstaben des Gesetzes nicht den Demokraten überlassen und an den De¬ mokraten gezüchtigt? In diesem Augenblicke aber hieß Revision der Ver¬ fassung nichts Andres, als Fortdauer der präsidentiellen Gewalt, wie Fort¬ dauer der Verfassung nichts Andres hieß als Absetzung Bonaparte's. Das Parlament hatte sich für ihn erklärt, aber die Verfassung erklärte sich gegen das Parlament. Er handelte also im Sinne des Parlaments, wenn er die Verfassung zerriß, und er handelte im Sinne der Verfassung, wenn er das Parlament auseinanderjagte.
Das Parlament hatte die Verfassung und mit ihr seine eigene Herrschaft "außerhalb der Majorität" erklärt, es hatte durch seinen Beschluß die Ver¬ fassung aufgehoben und die präsidentielle Gewalt verlängert und zugleich er¬ klärt, daß weder die eine sterben noch die andre leben könne, so lange es selbst fortbestehe. Die Füße derer, die es begraben sollten, standen vor der Thüre. Während es die Revision debattirte, entfernte Bonaparte den General Baraguay d'Hilliers, der sich unschlüssig zeigte, von dem Kommando der ersten Militärdivision und ernannte an seine Stelle den General Magnan, den Sieger von Lyon, den Helden der Dezembertage, eine seiner Kreaturen, die sich schon unter Louis Philipp bei Gelegenheit der Expedition von Bou¬ logne mehr oder minder für ihn kompromittirt hatte.
Die Ordnungspartei bewies durch ihren Beschluß über die Revision, daß sie weder zu herrschen noch zu dienen, weder zu leben noch zu sterben, weder die Republik zu ertragen noch sie umzustürzen, weder die Verfassung aufrecht zu erhalten noch sie über den Haufen zu werfen, weder mit dem Präsidenten zusammenzuwirken noch mit ihm zu brechen verstand. Von wem
bene Dreiviertel der Stimmenzahl für Reviſion entſcheide. Nach ſechstä¬ gigen ſtürmiſchen Debatten, am 19. Juli, wurde die Reviſion, wie vorher¬ zuſehn, verworfen. Es ſtimmten 446 dafür, aber 278 dagegen. Die entſchiedenen Orleaniſten Thiers, Changarnier ꝛc. ſtimmten mit den Repu¬ blikanern und der Montagne.
Die Majorität des Parlaments erklärte ſich ſo gegen die Verfaſſung, aber dieſe Verfaſſung ſelbſt erklärte ſich für die Minorität, und ihren Beſchluß für bindend. Hatte aber die Ordnungspartei nicht am 31. Mai 1850, nicht am 13. Juni 1849 die Verfaſſung der parlamentariſchen Ma¬ jorität untergeordnet? Beruhte ihre ganze bisherige Politik nicht auf der Unterordnung der Verfaſſungsparagraphen unter die parlamentariſchen Majoritätsbeſchlüſſe? Hatte ſie den altteſtamentariſchen Aberglauben an den Buchſtaben des Geſetzes nicht den Demokraten überlaſſen und an den De¬ mokraten gezüchtigt? In dieſem Augenblicke aber hieß Reviſion der Ver¬ faſſung nichts Andres, als Fortdauer der präſidentiellen Gewalt, wie Fort¬ dauer der Verfaſſung nichts Andres hieß als Abſetzung Bonaparte's. Das Parlament hatte ſich für ihn erklärt, aber die Verfaſſung erklärte ſich gegen das Parlament. Er handelte alſo im Sinne des Parlaments, wenn er die Verfaſſung zerriß, und er handelte im Sinne der Verfaſſung, wenn er das Parlament auseinanderjagte.
Das Parlament hatte die Verfaſſung und mit ihr ſeine eigene Herrſchaft „außerhalb der Majorität“ erklärt, es hatte durch ſeinen Beſchluß die Ver¬ faſſung aufgehoben und die präſidentielle Gewalt verlängert und zugleich er¬ klärt, daß weder die eine ſterben noch die andre leben könne, ſo lange es ſelbſt fortbeſtehe. Die Füße derer, die es begraben ſollten, ſtanden vor der Thüre. Während es die Reviſion debattirte, entfernte Bonaparte den General Baraguay d'Hilliers, der ſich unſchlüſſig zeigte, von dem Kommando der erſten Militärdiviſion und ernannte an ſeine Stelle den General Magnan, den Sieger von Lyon, den Helden der Dezembertage, eine ſeiner Kreaturen, die ſich ſchon unter Louis Philipp bei Gelegenheit der Expedition von Bou¬ logne mehr oder minder für ihn kompromittirt hatte.
Die Ordnungspartei bewies durch ihren Beſchluß über die Reviſion, daß ſie weder zu herrſchen noch zu dienen, weder zu leben noch zu ſterben, weder die Republik zu ertragen noch ſie umzuſtürzen, weder die Verfaſſung aufrecht zu erhalten noch ſie über den Haufen zu werfen, weder mit dem Präſidenten zuſammenzuwirken noch mit ihm zu brechen verſtand. Von wem
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbn="70"facs="#f0082"/>
bene Dreiviertel der Stimmenzahl für Reviſion entſcheide. Nach ſechstä¬<lb/>
gigen ſtürmiſchen Debatten, am 19. Juli, wurde die Reviſion, wie vorher¬<lb/>
zuſehn, verworfen. Es ſtimmten 446 dafür, aber 278 dagegen. Die<lb/>
entſchiedenen Orleaniſten Thiers, Changarnier ꝛc. ſtimmten mit den Repu¬<lb/>
blikanern und der Montagne.</p><lb/><p>Die Majorität des Parlaments erklärte ſich ſo gegen die Verfaſſung,<lb/>
aber dieſe Verfaſſung ſelbſt erklärte ſich für die Minorität, und ihren<lb/>
Beſchluß für bindend. Hatte aber die Ordnungspartei nicht am 31. Mai<lb/>
1850, nicht am 13. Juni 1849 die Verfaſſung der parlamentariſchen Ma¬<lb/>
jorität untergeordnet? Beruhte ihre ganze bisherige Politik nicht auf der<lb/>
Unterordnung der Verfaſſungsparagraphen unter die parlamentariſchen<lb/>
Majoritätsbeſchlüſſe? Hatte ſie den altteſtamentariſchen Aberglauben an den<lb/>
Buchſtaben des Geſetzes nicht den Demokraten überlaſſen und an den De¬<lb/>
mokraten gezüchtigt? In dieſem Augenblicke aber hieß Reviſion der Ver¬<lb/>
faſſung nichts Andres, als Fortdauer der präſidentiellen Gewalt, wie Fort¬<lb/>
dauer der Verfaſſung nichts Andres hieß als Abſetzung Bonaparte's. Das<lb/>
Parlament hatte ſich für ihn erklärt, aber die Verfaſſung erklärte ſich gegen<lb/>
das Parlament. Er handelte alſo im Sinne des Parlaments, wenn er die<lb/>
Verfaſſung zerriß, und er handelte im Sinne der Verfaſſung, wenn er das<lb/>
Parlament auseinanderjagte.</p><lb/><p>Das Parlament hatte die Verfaſſung und mit ihr ſeine eigene Herrſchaft<lb/>„außerhalb der Majorität“ erklärt, es hatte durch ſeinen Beſchluß die Ver¬<lb/>
faſſung aufgehoben und die präſidentielle Gewalt verlängert und zugleich er¬<lb/>
klärt, daß weder die eine ſterben noch die andre leben könne, ſo lange es<lb/>ſelbſt fortbeſtehe. Die Füße derer, die es begraben ſollten, ſtanden vor der<lb/>
Thüre. Während es die Reviſion debattirte, entfernte Bonaparte den<lb/>
General Baraguay d'Hilliers, der ſich unſchlüſſig zeigte, von dem Kommando<lb/>
der erſten Militärdiviſion und ernannte an ſeine Stelle den General Magnan,<lb/>
den Sieger von Lyon, den Helden der Dezembertage, eine ſeiner Kreaturen,<lb/>
die ſich ſchon unter Louis Philipp bei Gelegenheit der Expedition von Bou¬<lb/>
logne mehr oder minder für ihn kompromittirt hatte.</p><lb/><p>Die Ordnungspartei bewies durch ihren Beſchluß über die Reviſion,<lb/>
daß ſie weder zu herrſchen noch zu dienen, weder zu leben noch zu ſterben,<lb/>
weder die Republik zu ertragen noch ſie umzuſtürzen, weder die Verfaſſung<lb/>
aufrecht zu erhalten noch ſie über den Haufen zu werfen, weder mit dem<lb/>
Präſidenten zuſammenzuwirken noch mit ihm zu brechen verſtand. Von wem<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[70/0082]
bene Dreiviertel der Stimmenzahl für Reviſion entſcheide. Nach ſechstä¬
gigen ſtürmiſchen Debatten, am 19. Juli, wurde die Reviſion, wie vorher¬
zuſehn, verworfen. Es ſtimmten 446 dafür, aber 278 dagegen. Die
entſchiedenen Orleaniſten Thiers, Changarnier ꝛc. ſtimmten mit den Repu¬
blikanern und der Montagne.
Die Majorität des Parlaments erklärte ſich ſo gegen die Verfaſſung,
aber dieſe Verfaſſung ſelbſt erklärte ſich für die Minorität, und ihren
Beſchluß für bindend. Hatte aber die Ordnungspartei nicht am 31. Mai
1850, nicht am 13. Juni 1849 die Verfaſſung der parlamentariſchen Ma¬
jorität untergeordnet? Beruhte ihre ganze bisherige Politik nicht auf der
Unterordnung der Verfaſſungsparagraphen unter die parlamentariſchen
Majoritätsbeſchlüſſe? Hatte ſie den altteſtamentariſchen Aberglauben an den
Buchſtaben des Geſetzes nicht den Demokraten überlaſſen und an den De¬
mokraten gezüchtigt? In dieſem Augenblicke aber hieß Reviſion der Ver¬
faſſung nichts Andres, als Fortdauer der präſidentiellen Gewalt, wie Fort¬
dauer der Verfaſſung nichts Andres hieß als Abſetzung Bonaparte's. Das
Parlament hatte ſich für ihn erklärt, aber die Verfaſſung erklärte ſich gegen
das Parlament. Er handelte alſo im Sinne des Parlaments, wenn er die
Verfaſſung zerriß, und er handelte im Sinne der Verfaſſung, wenn er das
Parlament auseinanderjagte.
Das Parlament hatte die Verfaſſung und mit ihr ſeine eigene Herrſchaft
„außerhalb der Majorität“ erklärt, es hatte durch ſeinen Beſchluß die Ver¬
faſſung aufgehoben und die präſidentielle Gewalt verlängert und zugleich er¬
klärt, daß weder die eine ſterben noch die andre leben könne, ſo lange es
ſelbſt fortbeſtehe. Die Füße derer, die es begraben ſollten, ſtanden vor der
Thüre. Während es die Reviſion debattirte, entfernte Bonaparte den
General Baraguay d'Hilliers, der ſich unſchlüſſig zeigte, von dem Kommando
der erſten Militärdiviſion und ernannte an ſeine Stelle den General Magnan,
den Sieger von Lyon, den Helden der Dezembertage, eine ſeiner Kreaturen,
die ſich ſchon unter Louis Philipp bei Gelegenheit der Expedition von Bou¬
logne mehr oder minder für ihn kompromittirt hatte.
Die Ordnungspartei bewies durch ihren Beſchluß über die Reviſion,
daß ſie weder zu herrſchen noch zu dienen, weder zu leben noch zu ſterben,
weder die Republik zu ertragen noch ſie umzuſtürzen, weder die Verfaſſung
aufrecht zu erhalten noch ſie über den Haufen zu werfen, weder mit dem
Präſidenten zuſammenzuwirken noch mit ihm zu brechen verſtand. Von wem
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Diese zweite, von Marx überarbeitete Fassung des … [mehr]
Diese zweite, von Marx überarbeitete Fassung des "Brumaire" erschien 1869 in Hamburg. Sie ist die erste selbstständige Publikation des Textes, der zuerst als Heft 1 (1851) der Zeitschrift "Die Revolution. Eine Zeitschrift in zwanglosen Heften" erschien, und wurde daher gemäß den Leitlinien des DTA für die Digitalisierung zugrunde gelegt.
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. 2. Aufl. Hamburg, 1869, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marx_bonaparte_1869/82>, abgerufen am 02.03.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.