erwartete sie denn die Lösung aller Widersprüche? Von dem Kalender, von dem Gang der Ereignisse. Sie hörte auf, sich die Gewalt über die Ereig¬ nisse anzumaßen. Sie forderte also die Ereignisse heraus, ihr Gewalt anzuthun, und damit die Macht, woran sie im Kampfe mit dem Volke ein Attribut nach dem andern abgetreten hatte, bis sie selbst ihr gewaltlos gegenüberstand. Damit der Chef der Exekutivgewalt desto ungestörter den Kampfplan gegen sie entwerfen, seine Angriffsmittel verstärken, seine Werk¬ zeuge auswählen, seine Positionen befestigen könne, beschloß sie mitten in diesem kritischen Augenblicke von der Bühne abzutreten und sich auf drei Monate zu vertagen, vom 10. August bis 4. November.
Die parlamentarische Partei war nicht nur in ihre zwei großen Frak¬ tionen, jede dieser Fraktionen war nicht nur innerhalb ihrer selbst aufgelöst, sondern die Ordnungspartei im Parlamente war mit der Ordnungspartei außerhalb des Parlaments zerfallen. Die Wortführer und die Schrift¬ gelehrten der Bourgeoisie, ihre Tribüne und ihre Presse, kurz die Ideologen der Bourgeoisie und die Bourgeoisie selbst, die Repräsentanten und die Repräsentirten, standen sich entfremdet gegenüber und verstanden sich nicht mehr.
Die Legitimisten in den Provinzen, mit ihrem beschränkten Horizont und ihrem unbeschränkten Enthusiasmus, bezüchtigten ihre parlamentarischen Führer, Berryer und Falloux, der Desertion in's bonapartistische Lager und des Abfalls von Heinrich V. Ihr Lilienverstand glaubte an den Sündenfall, aber nicht an die Diplomatie.
Ungleich verhängnißvoller und entscheidender war der Bruch der kom¬ merziellen Bourgeoisie mit ihren Politikern. Sie warf ihnen vor, nicht wie die Legitimisten den ihren, von dem Prinzip abgefallen zu sein, sondern um¬ gekehrt, an unnütz gewordenen Prinzipien festzuhalten.
Ich habe schon früher angedeutet, daß seit dem Eintritt Fould's in's Ministerium der Theil der kommerziellen Bourgeoisie, der den Löwenantheil an Louis Philipp's Herrschaft besessen hatte, daß die Finanzaristokratie bonapartistisch geworden war. Fould vertrat nicht nur Bonaparte's Interesse an der Börse, er vertrat zugleich das Interesse der Börse bei Bonaparte. Die Stellung der Finanzaristokratie schildert am schlagendsten ein Citat aus ihrem europäischen Organ, dem Londoner Oekonomist. In seiner Num¬ mer vom 1. Februar 1851 läßt er sich aus Paris schreiben: "Nun haben wir es konstatirt von allen Seiten her, daß Frankreich vor Allem nach Ruhe
erwartete ſie denn die Löſung aller Widerſprüche? Von dem Kalender, von dem Gang der Ereigniſſe. Sie hörte auf, ſich die Gewalt über die Ereig¬ niſſe anzumaßen. Sie forderte alſo die Ereigniſſe heraus, ihr Gewalt anzuthun, und damit die Macht, woran ſie im Kampfe mit dem Volke ein Attribut nach dem andern abgetreten hatte, bis ſie ſelbſt ihr gewaltlos gegenüberſtand. Damit der Chef der Exekutivgewalt deſto ungeſtörter den Kampfplan gegen ſie entwerfen, ſeine Angriffsmittel verſtärken, ſeine Werk¬ zeuge auswählen, ſeine Poſitionen befeſtigen könne, beſchloß ſie mitten in dieſem kritiſchen Augenblicke von der Bühne abzutreten und ſich auf drei Monate zu vertagen, vom 10. Auguſt bis 4. November.
Die parlamentariſche Partei war nicht nur in ihre zwei großen Frak¬ tionen, jede dieſer Fraktionen war nicht nur innerhalb ihrer ſelbſt aufgelöſt, ſondern die Ordnungspartei im Parlamente war mit der Ordnungspartei außerhalb des Parlaments zerfallen. Die Wortführer und die Schrift¬ gelehrten der Bourgeoiſie, ihre Tribüne und ihre Preſſe, kurz die Ideologen der Bourgeoiſie und die Bourgeoiſie ſelbſt, die Repräſentanten und die Repräſentirten, ſtanden ſich entfremdet gegenüber und verſtanden ſich nicht mehr.
Die Legitimiſten in den Provinzen, mit ihrem beſchränkten Horizont und ihrem unbeſchränkten Enthuſiasmus, bezüchtigten ihre parlamentariſchen Führer, Berryer und Falloux, der Deſertion in's bonapartiſtiſche Lager und des Abfalls von Heinrich V. Ihr Lilienverſtand glaubte an den Sündenfall, aber nicht an die Diplomatie.
Ungleich verhängnißvoller und entſcheidender war der Bruch der kom¬ merziellen Bourgeoiſie mit ihren Politikern. Sie warf ihnen vor, nicht wie die Legitimiſten den ihren, von dem Prinzip abgefallen zu ſein, ſondern um¬ gekehrt, an unnütz gewordenen Prinzipien feſtzuhalten.
Ich habe ſchon früher angedeutet, daß ſeit dem Eintritt Fould's in's Miniſterium der Theil der kommerziellen Bourgeoiſie, der den Löwenantheil an Louis Philipp's Herrſchaft beſeſſen hatte, daß die Finanzariſtokratie bonapartiſtiſch geworden war. Fould vertrat nicht nur Bonaparte's Intereſſe an der Börſe, er vertrat zugleich das Intereſſe der Börſe bei Bonaparte. Die Stellung der Finanzariſtokratie ſchildert am ſchlagendſten ein Citat aus ihrem europäiſchen Organ, dem Londoner Oekonomiſt. In ſeiner Num¬ mer vom 1. Februar 1851 läßt er ſich aus Paris ſchreiben: „Nun haben wir es konſtatirt von allen Seiten her, daß Frankreich vor Allem nach Ruhe
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erwartete ſie denn die Löſung aller Widerſprüche? Von dem Kalender, von
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niſſe anzumaßen. Sie forderte alſo die Ereigniſſe heraus, ihr Gewalt
anzuthun, und damit die Macht, woran ſie im Kampfe mit dem Volke ein
Attribut nach dem andern abgetreten hatte, bis ſie ſelbſt ihr gewaltlos
gegenüberſtand. Damit der Chef der Exekutivgewalt deſto ungeſtörter den
Kampfplan gegen ſie entwerfen, ſeine Angriffsmittel verſtärken, ſeine Werk¬
zeuge auswählen, ſeine Poſitionen befeſtigen könne, beſchloß ſie mitten in
dieſem kritiſchen Augenblicke von der Bühne abzutreten und ſich auf drei
Monate zu vertagen, vom 10. Auguſt bis 4. November.
Die parlamentariſche Partei war nicht nur in ihre zwei großen Frak¬
tionen, jede dieſer Fraktionen war nicht nur innerhalb ihrer ſelbſt aufgelöſt,
ſondern die Ordnungspartei im Parlamente war mit der Ordnungspartei
außerhalb des Parlaments zerfallen. Die Wortführer und die Schrift¬
gelehrten der Bourgeoiſie, ihre Tribüne und ihre Preſſe, kurz die Ideologen
der Bourgeoiſie und die Bourgeoiſie ſelbſt, die Repräſentanten und die
Repräſentirten, ſtanden ſich entfremdet gegenüber und verſtanden ſich
nicht mehr.
Die Legitimiſten in den Provinzen, mit ihrem beſchränkten Horizont
und ihrem unbeſchränkten Enthuſiasmus, bezüchtigten ihre parlamentariſchen
Führer, Berryer und Falloux, der Deſertion in's bonapartiſtiſche Lager und
des Abfalls von Heinrich V. Ihr Lilienverſtand glaubte an den Sündenfall,
aber nicht an die Diplomatie.
Ungleich verhängnißvoller und entſcheidender war der Bruch der kom¬
merziellen Bourgeoiſie mit ihren Politikern. Sie warf ihnen vor, nicht wie
die Legitimiſten den ihren, von dem Prinzip abgefallen zu ſein, ſondern um¬
gekehrt, an unnütz gewordenen Prinzipien feſtzuhalten.
Ich habe ſchon früher angedeutet, daß ſeit dem Eintritt Fould's in's
Miniſterium der Theil der kommerziellen Bourgeoiſie, der den Löwenantheil
an Louis Philipp's Herrſchaft beſeſſen hatte, daß die Finanzariſtokratie
bonapartiſtiſch geworden war. Fould vertrat nicht nur Bonaparte's Intereſſe
an der Börſe, er vertrat zugleich das Intereſſe der Börſe bei Bonaparte.
Die Stellung der Finanzariſtokratie ſchildert am ſchlagendſten ein Citat aus
ihrem europäiſchen Organ, dem Londoner Oekonomiſt. In ſeiner Num¬
mer vom 1. Februar 1851 läßt er ſich aus Paris ſchreiben: „Nun haben
wir es konſtatirt von allen Seiten her, daß Frankreich vor Allem nach Ruhe
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Diese zweite, von Marx überarbeitete Fassung des … [mehr]
Diese zweite, von Marx überarbeitete Fassung des "Brumaire" erschien 1869 in Hamburg. Sie ist die erste selbstständige Publikation des Textes, der zuerst als Heft 1 (1851) der Zeitschrift "Die Revolution. Eine Zeitschrift in zwanglosen Heften" erschien, und wurde daher gemäß den Leitlinien des DTA für die Digitalisierung zugrunde gelegt.
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Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. 2. Aufl. Hamburg, 1869, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marx_bonaparte_1869/83>, abgerufen am 02.03.2025.
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