Stimmen. Sie zerriß so noch einmal ihr Mandat, sie bestätigte noch ein¬ mal, daß sie sich aus der freigewählten Repräsentation des Volkes in das usurpatorische Parlament einer Klasse verwandelt, sie bekannte noch einmal, daß sie selbst die Muskeln entzweigeschnitten hatte, die den parlamentarischen Kopf mit dem Körper der Nation verbanden.
Wenn die Exekutivgewalt durch ihren Antrag auf Wiederherstellung des allgemeinen Wahlrechts von der Nationalversammlung an das Volk, appellirte die gesetzgebende Gewalt durch ihre Quästorenbill von dem Volke an die Armee. Diese Quästorenbill sollte ihr Recht auf unmittelbare Requi¬ sition der Truppen, auf Bildung einer parlamentarischen Armee festsetzen. Wenn sie so die Armee zum Schiedsrichter zwischen sich und dem Volke, zwischen sich und Bonaparte ernannte, wenn sie die Armee als entscheidende Staatsgewalt anerkannte, mußte sie andrerseits bestätigen, daß sie längst den Anspruch auf Herrschaft über dieselbe aufgegeben habe. Indem sie, statt sofort Truppen zu requiriren, das Recht der Requisition debattirte, verrieth sie den Zweifel an ihrer eignen Macht. Indem sie die Quästorenbill ver¬ warf, gestand sie offen ihre Ohnmacht. Diese Bill fiel durch mit einer Minorität von 108 Stimmen, die Montagne hatte so den Ausschlag ge¬ geben. Sie befand sich in der Lage von Buridan's Esel, zwar nicht zwischen zwei Säcken Heu, um zu entscheiden, welcher der anziehendere, wohl aber zwischen zwei Trachten Prügel, um zu entscheiden, welche die härtere sei. Auf der einen Seite die Furcht vor Changarnier, auf der andern die Furcht vor Bonaparte. Man muß gestehn, daß die Lage keine heroische war.
Am 18. November wurde zu dem von der Ordnungspartei eingebrach¬ ten Gesetze über die Kommunalwahlen das Amendement gestellt, daß statt drei Jahren ein Jahr Domizil für die Kommunalwähler genügen solle. Das Amendement fiel mit einer einzigen Stimme durch, aber diese eine Stimme stellte sich sofort als ein Irrthum heraus. Die Ordnungspartei hatte durch Zersplitterung in ihre feindlichen Fraktionen längst ihre selbstständig-parlamentarische Majorität eingebüßt. Sie zeigte jetzt, daß überhaupt keine Majorität im Parlament mehr vorhanden war. Die Nationalversammlung war beschlußunfähig geworden. Ihre ato¬ mistischen Bestandtheile hingen durch keine Kohäsionskraft mehr zusammen, sie hatte ihren letzten Lebensathem verbraucht, sie war todt.
Die außerparlamentarische Masse der Bourgeoisie endlich sollte ihren
Stimmen. Sie zerriß ſo noch einmal ihr Mandat, ſie beſtätigte noch ein¬ mal, daß ſie ſich aus der freigewählten Repräſentation des Volkes in das uſurpatoriſche Parlament einer Klaſſe verwandelt, ſie bekannte noch einmal, daß ſie ſelbſt die Muskeln entzweigeſchnitten hatte, die den parlamentariſchen Kopf mit dem Körper der Nation verbanden.
Wenn die Exekutivgewalt durch ihren Antrag auf Wiederherſtellung des allgemeinen Wahlrechts von der Nationalverſammlung an das Volk, appellirte die geſetzgebende Gewalt durch ihre Quäſtorenbill von dem Volke an die Armee. Dieſe Quäſtorenbill ſollte ihr Recht auf unmittelbare Requi¬ ſition der Truppen, auf Bildung einer parlamentariſchen Armee feſtſetzen. Wenn ſie ſo die Armee zum Schiedsrichter zwiſchen ſich und dem Volke, zwiſchen ſich und Bonaparte ernannte, wenn ſie die Armee als entſcheidende Staatsgewalt anerkannte, mußte ſie andrerſeits beſtätigen, daß ſie längſt den Anſpruch auf Herrſchaft über dieſelbe aufgegeben habe. Indem ſie, ſtatt ſofort Truppen zu requiriren, das Recht der Requiſition debattirte, verrieth ſie den Zweifel an ihrer eignen Macht. Indem ſie die Quäſtorenbill ver¬ warf, geſtand ſie offen ihre Ohnmacht. Dieſe Bill fiel durch mit einer Minorität von 108 Stimmen, die Montagne hatte ſo den Ausſchlag ge¬ geben. Sie befand ſich in der Lage von Buridan's Eſel, zwar nicht zwiſchen zwei Säcken Heu, um zu entſcheiden, welcher der anziehendere, wohl aber zwiſchen zwei Trachten Prügel, um zu entſcheiden, welche die härtere ſei. Auf der einen Seite die Furcht vor Changarnier, auf der andern die Furcht vor Bonaparte. Man muß geſtehn, daß die Lage keine heroiſche war.
Am 18. November wurde zu dem von der Ordnungspartei eingebrach¬ ten Geſetze über die Kommunalwahlen das Amendement geſtellt, daß ſtatt drei Jahren ein Jahr Domizil für die Kommunalwähler genügen ſolle. Das Amendement fiel mit einer einzigen Stimme durch, aber dieſe eine Stimme ſtellte ſich ſofort als ein Irrthum heraus. Die Ordnungspartei hatte durch Zerſplitterung in ihre feindlichen Fraktionen längſt ihre ſelbſtſtändig-parlamentariſche Majorität eingebüßt. Sie zeigte jetzt, daß überhaupt keine Majorität im Parlament mehr vorhanden war. Die Nationalverſammlung war beſchlußunfähig geworden. Ihre ato¬ miſtiſchen Beſtandtheile hingen durch keine Kohäſionskraft mehr zuſammen, ſie hatte ihren letzten Lebensathem verbraucht, ſie war todt.
Die außerparlamentariſche Maſſe der Bourgeoiſie endlich ſollte ihren
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Stimmen. Sie zerriß ſo noch einmal ihr Mandat, ſie beſtätigte noch ein¬
mal, daß ſie ſich aus der freigewählten Repräſentation des Volkes in das
uſurpatoriſche Parlament einer Klaſſe verwandelt, ſie bekannte noch einmal,
daß ſie ſelbſt die Muskeln entzweigeſchnitten hatte, die den parlamentariſchen
Kopf mit dem Körper der Nation verbanden.
Wenn die Exekutivgewalt durch ihren Antrag auf Wiederherſtellung
des allgemeinen Wahlrechts von der Nationalverſammlung an das Volk,
appellirte die geſetzgebende Gewalt durch ihre Quäſtorenbill von dem Volke
an die Armee. Dieſe Quäſtorenbill ſollte ihr Recht auf unmittelbare Requi¬
ſition der Truppen, auf Bildung einer parlamentariſchen Armee feſtſetzen.
Wenn ſie ſo die Armee zum Schiedsrichter zwiſchen ſich und dem Volke,
zwiſchen ſich und Bonaparte ernannte, wenn ſie die Armee als entſcheidende
Staatsgewalt anerkannte, mußte ſie andrerſeits beſtätigen, daß ſie längſt den
Anſpruch auf Herrſchaft über dieſelbe aufgegeben habe. Indem ſie, ſtatt
ſofort Truppen zu requiriren, das Recht der Requiſition debattirte, verrieth
ſie den Zweifel an ihrer eignen Macht. Indem ſie die Quäſtorenbill ver¬
warf, geſtand ſie offen ihre Ohnmacht. Dieſe Bill fiel durch mit einer
Minorität von 108 Stimmen, die Montagne hatte ſo den Ausſchlag ge¬
geben. Sie befand ſich in der Lage von Buridan's Eſel, zwar nicht zwiſchen
zwei Säcken Heu, um zu entſcheiden, welcher der anziehendere, wohl aber
zwiſchen zwei Trachten Prügel, um zu entſcheiden, welche die härtere ſei.
Auf der einen Seite die Furcht vor Changarnier, auf der andern die
Furcht vor Bonaparte. Man muß geſtehn, daß die Lage keine heroiſche war.
Am 18. November wurde zu dem von der Ordnungspartei eingebrach¬
ten Geſetze über die Kommunalwahlen das Amendement geſtellt, daß ſtatt
drei Jahren ein Jahr Domizil für die Kommunalwähler genügen ſolle.
Das Amendement fiel mit einer einzigen Stimme durch, aber dieſe eine
Stimme ſtellte ſich ſofort als ein Irrthum heraus. Die Ordnungspartei
hatte durch Zerſplitterung in ihre feindlichen Fraktionen längſt ihre
ſelbſtſtändig-parlamentariſche Majorität eingebüßt. Sie zeigte jetzt, daß
überhaupt keine Majorität im Parlament mehr vorhanden war. Die
Nationalverſammlung war beſchlußunfähig geworden. Ihre ato¬
miſtiſchen Beſtandtheile hingen durch keine Kohäſionskraft mehr zuſammen,
ſie hatte ihren letzten Lebensathem verbraucht, ſie war todt.
Die außerparlamentariſche Maſſe der Bourgeoiſie endlich ſollte ihren
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Diese zweite, von Marx überarbeitete Fassung des … [mehr]
Diese zweite, von Marx überarbeitete Fassung des "Brumaire" erschien 1869 in Hamburg. Sie ist die erste selbstständige Publikation des Textes, der zuerst als Heft 1 (1851) der Zeitschrift "Die Revolution. Eine Zeitschrift in zwanglosen Heften" erschien, und wurde daher gemäß den Leitlinien des DTA für die Digitalisierung zugrunde gelegt.
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Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. 2. Aufl. Hamburg, 1869, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marx_bonaparte_1869/92>, abgerufen am 02.03.2025.
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