dass jede gesundheitspolizeiliche Massregel, die, wie das bisher in London der Fall, durch Niederschleifen untauglicher Häuser die Arbeiter aus einem Viertel verjagt, nur dazu dient sie in ein andres desto dichter zusammen zu drängen. "Entweder", sagt Dr. Hunter, "muss die ganze Proce- dur als eine Abgeschmacktheit nothwendig zum Stillstand kommen, oder die öffentliche Sympathie(!) muss erwachen für das, was man jetzt ohne Uebertreibung eine nationale Pflicht nennen kann, nämlich Obdach für Leute zu verschaffen, welche aus Mangel an Kapital sich selbst keins verschaffen können, obgleich sie durch periodische Zahlung die Ver- miether belohnen können"122). Man bewundre die kapitalistische Justiz! Der Grundeigenthümer, Hauseigner, Geschäftsmann, wenn expropriirt durch "improvements", wie Eisenbahnen, Neubau der Strassen u. s. w., erhält nicht nur volle Entschädigung. Er muss für seine erzwungne "Ent- sagung" von Gott und Rechtswegen obendrein noch durch einen erklecklichen Profit getröstet werden. Der Arbeiter wird mit Frau und Kind und Habe aufs Pflaster geworfen und -- wenn er zu massenhaft nach Stadtvierteln drängt, wo die Municipalität auf Anstand hält, gesundheitspolizei- lich verfolgt!
Ausser London gab es Anfang des 19. Jahrhunderts keine einzige Stadt in England, die 100,000 Einwohner zählte. Nur 5 zählten mehr als 50,000. Jetzt existiren 28 Städte mit mehr als 50,000 Einwohnern. "Das Resultat dieses Wechsels war nicht nur enormer Zuwachs der städti- schen Bevölkerung, sondern die alten dichtgepackten kleinen Städte sind nun Centra, die von allen Seiten umbaut sind, nirgendwo mit freiem Luft- zutritt. Da sie für die Reichen nicht länger angenehm sind, werden sie von ihnen für die amüsanteren Vorstädte verlassen. Die Nachfolger dieser Rei- chen beziehn die grösseren Häuser, eine Familie, oft noch mit Untermiethern, für jedes Zimmer. So ward eine Bevölkerung gedrängt in Häuser, nicht für sie bestimmt, und wofür sie durchaus unpassend, mit einer Um- gebung, die wahrhaft erniedrigend für die Erwachsnen und ruinirend für die Kinder ist"123). Je rascher das Kapital in einer industriellen oder com- merciellen Stadt accumulirt, um so rascher der Zustrom des exploitablen Menschenmaterials, um so elender die improvisirten Wohnlichkeiten der
122) l. c. p. 89.
123) l. c. p. 56.
dass jede gesundheitspolizeiliche Massregel, die, wie das bisher in London der Fall, durch Niederschleifen untauglicher Häuser die Arbeiter aus einem Viertel verjagt, nur dazu dient sie in ein andres desto dichter zusammen zu drängen. „Entweder“, sagt Dr. Hunter, „muss die ganze Proce- dur als eine Abgeschmacktheit nothwendig zum Stillstand kommen, oder die öffentliche Sympathie(!) muss erwachen für das, was man jetzt ohne Uebertreibung eine nationale Pflicht nennen kann, nämlich Obdach für Leute zu verschaffen, welche aus Mangel an Kapital sich selbst keins verschaffen können, obgleich sie durch periodische Zahlung die Ver- miether belohnen können“122). Man bewundre die kapitalistische Justiz! Der Grundeigenthümer, Hauseigner, Geschäftsmann, wenn expropriirt durch „improvements“, wie Eisenbahnen, Neubau der Strassen u. s. w., erhält nicht nur volle Entschädigung. Er muss für seine erzwungne „Ent- sagung“ von Gott und Rechtswegen obendrein noch durch einen erklecklichen Profit getröstet werden. Der Arbeiter wird mit Frau und Kind und Habe aufs Pflaster geworfen und — wenn er zu massenhaft nach Stadtvierteln drängt, wo die Municipalität auf Anstand hält, gesundheitspolizei- lich verfolgt!
Ausser London gab es Anfang des 19. Jahrhunderts keine einzige Stadt in England, die 100,000 Einwohner zählte. Nur 5 zählten mehr als 50,000. Jetzt existiren 28 Städte mit mehr als 50,000 Einwohnern. „Das Resultat dieses Wechsels war nicht nur enormer Zuwachs der städti- schen Bevölkerung, sondern die alten dichtgepackten kleinen Städte sind nun Centra, die von allen Seiten umbaut sind, nirgendwo mit freiem Luft- zutritt. Da sie für die Reichen nicht länger angenehm sind, werden sie von ihnen für die amüsanteren Vorstädte verlassen. Die Nachfolger dieser Rei- chen beziehn die grösseren Häuser, eine Familie, oft noch mit Untermiethern, für jedes Zimmer. So ward eine Bevölkerung gedrängt in Häuser, nicht für sie bestimmt, und wofür sie durchaus unpassend, mit einer Um- gebung, die wahrhaft erniedrigend für die Erwachsnen und ruinirend für die Kinder ist“123). Je rascher das Kapital in einer industriellen oder com- merciellen Stadt accumulirt, um so rascher der Zustrom des exploitablen Menschenmaterials, um so elender die improvisirten Wohnlichkeiten der
122) l. c. p. 89.
123) l. c. p. 56.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0668"n="649"/>
dass jede gesundheitspolizeiliche Massregel, die, wie das bisher in London<lb/>
der Fall, durch Niederschleifen untauglicher Häuser die Arbeiter aus einem<lb/>
Viertel verjagt, nur dazu dient sie in ein andres desto dichter zusammen<lb/>
zu drängen. „Entweder“, sagt <hirendition="#g">Dr. Hunter</hi>, „muss die ganze Proce-<lb/>
dur als eine Abgeschmacktheit nothwendig zum Stillstand kommen, oder<lb/>
die öffentliche Sympathie(!) muss erwachen für das, was man jetzt ohne<lb/>
Uebertreibung <hirendition="#g">eine nationale Pflicht</hi> nennen kann, nämlich Obdach<lb/>
für Leute zu verschaffen, welche <hirendition="#g">aus Mangel an Kapital</hi> sich selbst<lb/>
keins verschaffen können, obgleich sie durch periodische Zahlung die Ver-<lb/>
miether belohnen können“<noteplace="foot"n="122)">l. c. p. 89.</note>. Man bewundre die kapitalistische Justiz!<lb/>
Der Grundeigenthümer, Hauseigner, Geschäftsmann, wenn expropriirt durch<lb/>„improvements“, wie Eisenbahnen, Neubau der Strassen u. s. w., erhält<lb/>
nicht nur <hirendition="#g">volle Entschädigung</hi>. Er muss für seine erzwungne „Ent-<lb/>
sagung“ von Gott und Rechtswegen obendrein noch durch einen erklecklichen<lb/><hirendition="#g">Profit</hi> getröstet werden. Der Arbeiter wird mit Frau und Kind und Habe<lb/>
aufs Pflaster geworfen und — wenn er zu massenhaft nach Stadtvierteln<lb/>
drängt, wo die Municipalität auf Anstand hält, <hirendition="#g">gesundheitspolizei-<lb/>
lich verfolgt</hi>!</p><lb/><p>Ausser London gab es Anfang des 19. Jahrhunderts keine einzige<lb/>
Stadt in England, die 100,000 Einwohner zählte. Nur 5 zählten mehr<lb/>
als 50,000. Jetzt existiren 28 Städte mit mehr als 50,000 Einwohnern.<lb/>„Das Resultat dieses Wechsels war nicht nur enormer Zuwachs der städti-<lb/>
schen Bevölkerung, sondern die alten dichtgepackten kleinen Städte sind<lb/>
nun Centra, die von allen Seiten umbaut sind, nirgendwo mit freiem Luft-<lb/>
zutritt. Da sie für die Reichen nicht länger angenehm sind, werden sie von<lb/>
ihnen für die amüsanteren Vorstädte verlassen. Die Nachfolger dieser Rei-<lb/>
chen beziehn die grösseren Häuser, eine Familie, oft noch mit Untermiethern,<lb/><hirendition="#g">für jedes Zimmer</hi>. So ward eine Bevölkerung gedrängt in Häuser,<lb/>
nicht für sie bestimmt, und wofür sie durchaus unpassend, mit einer Um-<lb/>
gebung, die wahrhaft erniedrigend für die Erwachsnen und ruinirend für die<lb/>
Kinder ist“<noteplace="foot"n="123)">l. c. p. 56.</note>. Je rascher das Kapital in einer industriellen oder com-<lb/>
merciellen Stadt accumulirt, um so rascher der Zustrom des exploitablen<lb/>
Menschenmaterials, um so elender die improvisirten Wohnlichkeiten der<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[649/0668]
dass jede gesundheitspolizeiliche Massregel, die, wie das bisher in London
der Fall, durch Niederschleifen untauglicher Häuser die Arbeiter aus einem
Viertel verjagt, nur dazu dient sie in ein andres desto dichter zusammen
zu drängen. „Entweder“, sagt Dr. Hunter, „muss die ganze Proce-
dur als eine Abgeschmacktheit nothwendig zum Stillstand kommen, oder
die öffentliche Sympathie(!) muss erwachen für das, was man jetzt ohne
Uebertreibung eine nationale Pflicht nennen kann, nämlich Obdach
für Leute zu verschaffen, welche aus Mangel an Kapital sich selbst
keins verschaffen können, obgleich sie durch periodische Zahlung die Ver-
miether belohnen können“ 122). Man bewundre die kapitalistische Justiz!
Der Grundeigenthümer, Hauseigner, Geschäftsmann, wenn expropriirt durch
„improvements“, wie Eisenbahnen, Neubau der Strassen u. s. w., erhält
nicht nur volle Entschädigung. Er muss für seine erzwungne „Ent-
sagung“ von Gott und Rechtswegen obendrein noch durch einen erklecklichen
Profit getröstet werden. Der Arbeiter wird mit Frau und Kind und Habe
aufs Pflaster geworfen und — wenn er zu massenhaft nach Stadtvierteln
drängt, wo die Municipalität auf Anstand hält, gesundheitspolizei-
lich verfolgt!
Ausser London gab es Anfang des 19. Jahrhunderts keine einzige
Stadt in England, die 100,000 Einwohner zählte. Nur 5 zählten mehr
als 50,000. Jetzt existiren 28 Städte mit mehr als 50,000 Einwohnern.
„Das Resultat dieses Wechsels war nicht nur enormer Zuwachs der städti-
schen Bevölkerung, sondern die alten dichtgepackten kleinen Städte sind
nun Centra, die von allen Seiten umbaut sind, nirgendwo mit freiem Luft-
zutritt. Da sie für die Reichen nicht länger angenehm sind, werden sie von
ihnen für die amüsanteren Vorstädte verlassen. Die Nachfolger dieser Rei-
chen beziehn die grösseren Häuser, eine Familie, oft noch mit Untermiethern,
für jedes Zimmer. So ward eine Bevölkerung gedrängt in Häuser,
nicht für sie bestimmt, und wofür sie durchaus unpassend, mit einer Um-
gebung, die wahrhaft erniedrigend für die Erwachsnen und ruinirend für die
Kinder ist“ 123). Je rascher das Kapital in einer industriellen oder com-
merciellen Stadt accumulirt, um so rascher der Zustrom des exploitablen
Menschenmaterials, um so elender die improvisirten Wohnlichkeiten der
122) l. c. p. 89.
123) l. c. p. 56.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Marx, Karl: Das Kapital. Buch I: Der Produktionsprocess des Kapitals. Hamburg, 1867, S. 649. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marx_kapital01_1867/668>, abgerufen am 29.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.