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Marx, Karl: Das Kapital. Buch I: Der Produktionsprocess des Kapitals. Hamburg, 1867.

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In England war die Leibeigenschaft im letzten Theil des 14. Jahr-
hunderts faktisch verschwunden. Die ungeheure Mehrzahl der Bevölke-
rung190) bestand damals und noch mehr im 15. Jahrhundert aus freien, selbst-
wirthschaftenden Bauern, durch welch feudales Aushängeschild ihr Eigen-
thum immer versteckt sein mochte. Auf den grösseren herrschaftlichen
Gütern war der früher selbst leibeigne bailiff (Vogt) durch den freien
Pächter verdrängt. Die Lohnarbeiter der Agrikultur bestanden theils aus
Bauern, die ihre Mussezeit durch Arbeit bei grossen Grundeigenthümern
verwertheten, theils aus einer selbstständigen, relativ und absolut wenig
zahlreichen Klasse eigentlicher Lohnarbeiter. Auch letztre waren faktisch
zugleich selbstwirthschaftende Bauern, indem sie ausser ihrem Lohn Acker-
land zum Belauf von 4 und mehr Acres nebst Cottages angewiesen er-
hielten. Sie genossen zudem mit den eigentlichen Bauern die Nutznies-
sung des Gemeindelandes, worauf ihr Vieh weidete und das ihnen
zugleich die Mittel der Feuerung, Holz, Torf u. s. w. bot191). In allen
Ländern Europa's ist die feudale Produktion durch Theilung des Bodens
unter möglichst viele Untersassen charakterisirt. Die Macht des Feudal-
herrn, wie die jeden Souverains, beruhte nicht auf der Länge seiner Rent-
rolle, sondern auf der Zahl seiner Unterthanen, und letztere hing von der
Zahl selbstwirthschaftender Bauern ab192). Obgleich der englische Boden
daher nach der normännischen Eroberung in riesenhafte Baronien vertheilt

190) Noch Ende des 17. Jahrhunderts waren mehr als 4/5 der englischen Ge-
sammtbevölkerung agrikol. (Macaulay: "The History of England."
Lond. 1854, v. I, p. 413.) Ich citire Macaulay, weil er als systematischer Ge-
schichtsfälscher derartige Thatsachen möglichst "beschneidet".
191) Man muss nie vergessen, dass selbst der Leibeigene nicht nur Eigen-
thümer
, wenn auch tributpflichtiger Eigenthümer, der zu seinem Haus gehörigen
Bodenparcellen war, sondern auch Miteigenthümer des Gemeinde-
landes
. "Le paysan y (en Silesie) est serf." Nichtsdestoweniger besitzen
diese serfs Gemeindegüter. "On n'a pas pu encore engager les Silesiens au
partage des communes, tandis que dans la nouvelle Marche, il n'y a guere de
village ou ce partage ne soit execute avec le plus grand succes." (Mirabeau:
"De la Monarchie Prussienne. Londres 1788", t. II, p. 125, 126.)
192) Japan, mit seiner rein feudalen Organisation des Grundeigenthums und
seiner entwickelten Kleinbauernwirthschaft, liefert ein viel treueres Bild des euro-
päischen Mittelalters als unsre sämmtlichen, meist von bürgerlichen Vorurtheilen
diktirten Geschichtsbücher. Es ist gar zu bequem, "liberal" auf Kosten des
Mittelalters zu sein.

In England war die Leibeigenschaft im letzten Theil des 14. Jahr-
hunderts faktisch verschwunden. Die ungeheure Mehrzahl der Bevölke-
rung190) bestand damals und noch mehr im 15. Jahrhundert aus freien, selbst-
wirthschaftenden Bauern, durch welch feudales Aushängeschild ihr Eigen-
thum immer versteckt sein mochte. Auf den grösseren herrschaftlichen
Gütern war der früher selbst leibeigne bailiff (Vogt) durch den freien
Pächter verdrängt. Die Lohnarbeiter der Agrikultur bestanden theils aus
Bauern, die ihre Mussezeit durch Arbeit bei grossen Grundeigenthümern
verwertheten, theils aus einer selbstständigen, relativ und absolut wenig
zahlreichen Klasse eigentlicher Lohnarbeiter. Auch letztre waren faktisch
zugleich selbstwirthschaftende Bauern, indem sie ausser ihrem Lohn Acker-
land zum Belauf von 4 und mehr Acres nebst Cottages angewiesen er-
hielten. Sie genossen zudem mit den eigentlichen Bauern die Nutznies-
sung des Gemeindelandes, worauf ihr Vieh weidete und das ihnen
zugleich die Mittel der Feuerung, Holz, Torf u. s. w. bot191). In allen
Ländern Europa’s ist die feudale Produktion durch Theilung des Bodens
unter möglichst viele Untersassen charakterisirt. Die Macht des Feudal-
herrn, wie die jeden Souverains, beruhte nicht auf der Länge seiner Rent-
rolle, sondern auf der Zahl seiner Unterthanen, und letztere hing von der
Zahl selbstwirthschaftender Bauern ab192). Obgleich der englische Boden
daher nach der normännischen Eroberung in riesenhafte Baronien vertheilt

190) Noch Ende des 17. Jahrhunderts waren mehr als ⅘ der englischen Ge-
sammtbevölkerung agrikol. (Macaulay: „The History of England.“
Lond. 1854, v. I, p. 413.) Ich citire Macaulay, weil er als systematischer Ge-
schichtsfälscher derartige Thatsachen möglichst „beschneidet“.
191) Man muss nie vergessen, dass selbst der Leibeigene nicht nur Eigen-
thümer
, wenn auch tributpflichtiger Eigenthümer, der zu seinem Haus gehörigen
Bodenparcellen war, sondern auch Miteigenthümer des Gemeinde-
landes
. „Le paysan y (en Silésie) est serf.“ Nichtsdestoweniger besitzen
diese serfs Gemeindegüter. „On n’a pas pu encore engager les Silésiens au
partage des communes, tandis que dans la nouvelle Marche, il n’y a guère de
village où ce partage ne soit exécuté avec le plus grand succès.“ (Mirabeau:
De la Monarchie Prussienne. Londres 1788“, t. II, p. 125, 126.)
192) Japan, mit seiner rein feudalen Organisation des Grundeigenthums und
seiner entwickelten Kleinbauernwirthschaft, liefert ein viel treueres Bild des euro-
päischen Mittelalters als unsre sämmtlichen, meist von bürgerlichen Vorurtheilen
diktirten Geschichtsbücher. Es ist gar zu bequem, „liberal“ auf Kosten des
Mittelalters zu sein.
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[702/0721] In England war die Leibeigenschaft im letzten Theil des 14. Jahr- hunderts faktisch verschwunden. Die ungeheure Mehrzahl der Bevölke- rung 190) bestand damals und noch mehr im 15. Jahrhundert aus freien, selbst- wirthschaftenden Bauern, durch welch feudales Aushängeschild ihr Eigen- thum immer versteckt sein mochte. Auf den grösseren herrschaftlichen Gütern war der früher selbst leibeigne bailiff (Vogt) durch den freien Pächter verdrängt. Die Lohnarbeiter der Agrikultur bestanden theils aus Bauern, die ihre Mussezeit durch Arbeit bei grossen Grundeigenthümern verwertheten, theils aus einer selbstständigen, relativ und absolut wenig zahlreichen Klasse eigentlicher Lohnarbeiter. Auch letztre waren faktisch zugleich selbstwirthschaftende Bauern, indem sie ausser ihrem Lohn Acker- land zum Belauf von 4 und mehr Acres nebst Cottages angewiesen er- hielten. Sie genossen zudem mit den eigentlichen Bauern die Nutznies- sung des Gemeindelandes, worauf ihr Vieh weidete und das ihnen zugleich die Mittel der Feuerung, Holz, Torf u. s. w. bot 191). In allen Ländern Europa’s ist die feudale Produktion durch Theilung des Bodens unter möglichst viele Untersassen charakterisirt. Die Macht des Feudal- herrn, wie die jeden Souverains, beruhte nicht auf der Länge seiner Rent- rolle, sondern auf der Zahl seiner Unterthanen, und letztere hing von der Zahl selbstwirthschaftender Bauern ab 192). Obgleich der englische Boden daher nach der normännischen Eroberung in riesenhafte Baronien vertheilt 190) Noch Ende des 17. Jahrhunderts waren mehr als ⅘ der englischen Ge- sammtbevölkerung agrikol. (Macaulay: „The History of England.“ Lond. 1854, v. I, p. 413.) Ich citire Macaulay, weil er als systematischer Ge- schichtsfälscher derartige Thatsachen möglichst „beschneidet“. 191) Man muss nie vergessen, dass selbst der Leibeigene nicht nur Eigen- thümer, wenn auch tributpflichtiger Eigenthümer, der zu seinem Haus gehörigen Bodenparcellen war, sondern auch Miteigenthümer des Gemeinde- landes. „Le paysan y (en Silésie) est serf.“ Nichtsdestoweniger besitzen diese serfs Gemeindegüter. „On n’a pas pu encore engager les Silésiens au partage des communes, tandis que dans la nouvelle Marche, il n’y a guère de village où ce partage ne soit exécuté avec le plus grand succès.“ (Mirabeau: „De la Monarchie Prussienne. Londres 1788“, t. II, p. 125, 126.) 192) Japan, mit seiner rein feudalen Organisation des Grundeigenthums und seiner entwickelten Kleinbauernwirthschaft, liefert ein viel treueres Bild des euro- päischen Mittelalters als unsre sämmtlichen, meist von bürgerlichen Vorurtheilen diktirten Geschichtsbücher. Es ist gar zu bequem, „liberal“ auf Kosten des Mittelalters zu sein.

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Zitationshilfe: Marx, Karl: Das Kapital. Buch I: Der Produktionsprocess des Kapitals. Hamburg, 1867, S. 702. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marx_kapital01_1867/721>, abgerufen am 21.11.2024.