"Dann würde er ja ein anderes Gewand haben müssen!"
"Vielleicht hat er das gehabt. Es ist gestern ein vollständiger Anzug gekauft worden."
Er blickte mich bei diesen Worten forschend an. Er meinte jedenfalls, ich werde mich durch eine Miene ver- raten; im Gegenteil aber hatte er sich durch diese Be- merkung bloßgestellt, denn nun wußte ich ganz genau, was ich von ihm zu erwarten hatte.
"Für ihn?" fragte ich ungläubig lächelnd.
"Ich glaube es. Ja, man hat sogar ein Reitpferd gekauft!"
"Auch für ihn?"
"Ich denke es. Und dieses befindet sich noch in der Stadt."
"Er will also offen und frei zum Thore hinausreiten? Oh, Mutesselim, ich glaube, dein System ist noch nicht in Ordnung gekommen. Ich werde dir Medizin senden müssen!"
"Ich werde nie wieder eine solche Medizin trinken," antwortete er einigermaßen verlegen. "Ich habe die Ueber- zeugung, daß er zwar hier aus dem Gefängnisse entkom- men ist, sich aber noch in der Stadt befindet."
"Und weißt du auch, wie er entkommen ist?"
"Nein; aber davon bin ich nun überzeugt, daß weder der Agha noch die Wächter die Schuld tragen, daß es ihm gelang."
"Und wo soll er sich versteckt halten?"
"Das werde ich schon noch entdecken, und dabei sollst du mir helfen, Effendi."
"Ich? Gern, wenn ich es vermag."
Ich hatte bei meinem Eintritte einen raschen Blick zur Treppe emporgeworfen und oben mehr Arnauten stehen sehen, als vorher hier postiert gewesen waren. Man hatte
„Dann würde er ja ein anderes Gewand haben müſſen!“
„Vielleicht hat er das gehabt. Es iſt geſtern ein vollſtändiger Anzug gekauft worden.“
Er blickte mich bei dieſen Worten forſchend an. Er meinte jedenfalls, ich werde mich durch eine Miene ver- raten; im Gegenteil aber hatte er ſich durch dieſe Be- merkung bloßgeſtellt, denn nun wußte ich ganz genau, was ich von ihm zu erwarten hatte.
„Für ihn?“ fragte ich ungläubig lächelnd.
„Ich glaube es. Ja, man hat ſogar ein Reitpferd gekauft!“
„Auch für ihn?“
„Ich denke es. Und dieſes befindet ſich noch in der Stadt.“
„Er will alſo offen und frei zum Thore hinausreiten? Oh, Muteſſelim, ich glaube, dein Syſtem iſt noch nicht in Ordnung gekommen. Ich werde dir Medizin ſenden müſſen!“
„Ich werde nie wieder eine ſolche Medizin trinken,“ antwortete er einigermaßen verlegen. „Ich habe die Ueber- zeugung, daß er zwar hier aus dem Gefängniſſe entkom- men iſt, ſich aber noch in der Stadt befindet.“
„Und weißt du auch, wie er entkommen iſt?“
„Nein; aber davon bin ich nun überzeugt, daß weder der Agha noch die Wächter die Schuld tragen, daß es ihm gelang.“
„Und wo ſoll er ſich verſteckt halten?“
„Das werde ich ſchon noch entdecken, und dabei ſollſt du mir helfen, Effendi.“
„Ich? Gern, wenn ich es vermag.“
Ich hatte bei meinem Eintritte einen raſchen Blick zur Treppe emporgeworfen und oben mehr Arnauten ſtehen ſehen, als vorher hier poſtiert geweſen waren. Man hatte
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0353"n="339"/><p>„Dann würde er ja ein anderes Gewand haben<lb/>
müſſen!“</p><lb/><p>„Vielleicht hat er das gehabt. Es iſt geſtern ein<lb/>
vollſtändiger Anzug gekauft worden.“</p><lb/><p>Er blickte mich bei dieſen Worten forſchend an. Er<lb/>
meinte jedenfalls, ich werde mich durch eine Miene ver-<lb/>
raten; im Gegenteil aber hatte er ſich durch dieſe Be-<lb/>
merkung bloßgeſtellt, denn nun wußte ich ganz genau,<lb/>
was ich von ihm zu erwarten hatte.</p><lb/><p>„Für ihn?“ fragte ich ungläubig lächelnd.</p><lb/><p>„Ich glaube es. Ja, man hat ſogar ein Reitpferd<lb/>
gekauft!“</p><lb/><p>„Auch für ihn?“</p><lb/><p>„Ich denke es. Und dieſes befindet ſich noch in der<lb/>
Stadt.“</p><lb/><p>„Er will alſo offen und frei zum Thore hinausreiten?<lb/>
Oh, Muteſſelim, ich glaube, dein Syſtem iſt noch nicht in<lb/>
Ordnung gekommen. Ich werde dir Medizin ſenden müſſen!“</p><lb/><p>„Ich werde nie wieder eine ſolche Medizin trinken,“<lb/>
antwortete er einigermaßen verlegen. „Ich habe die Ueber-<lb/>
zeugung, daß er zwar hier aus dem Gefängniſſe entkom-<lb/>
men iſt, ſich aber noch in der Stadt befindet.“</p><lb/><p>„Und weißt du auch, wie er entkommen iſt?“</p><lb/><p>„Nein; aber davon bin ich nun überzeugt, daß weder<lb/>
der Agha noch die Wächter die Schuld tragen, daß es<lb/>
ihm gelang.“</p><lb/><p>„Und wo ſoll er ſich verſteckt halten?“</p><lb/><p>„Das werde ich ſchon noch entdecken, und dabei ſollſt<lb/>
du mir helfen, Effendi.“</p><lb/><p>„Ich? Gern, wenn ich es vermag.“</p><lb/><p>Ich hatte bei meinem Eintritte einen raſchen Blick<lb/>
zur Treppe emporgeworfen und oben mehr Arnauten ſtehen<lb/>ſehen, als vorher hier poſtiert geweſen waren. Man hatte<lb/></p></div></body></text></TEI>
[339/0353]
„Dann würde er ja ein anderes Gewand haben
müſſen!“
„Vielleicht hat er das gehabt. Es iſt geſtern ein
vollſtändiger Anzug gekauft worden.“
Er blickte mich bei dieſen Worten forſchend an. Er
meinte jedenfalls, ich werde mich durch eine Miene ver-
raten; im Gegenteil aber hatte er ſich durch dieſe Be-
merkung bloßgeſtellt, denn nun wußte ich ganz genau,
was ich von ihm zu erwarten hatte.
„Für ihn?“ fragte ich ungläubig lächelnd.
„Ich glaube es. Ja, man hat ſogar ein Reitpferd
gekauft!“
„Auch für ihn?“
„Ich denke es. Und dieſes befindet ſich noch in der
Stadt.“
„Er will alſo offen und frei zum Thore hinausreiten?
Oh, Muteſſelim, ich glaube, dein Syſtem iſt noch nicht in
Ordnung gekommen. Ich werde dir Medizin ſenden müſſen!“
„Ich werde nie wieder eine ſolche Medizin trinken,“
antwortete er einigermaßen verlegen. „Ich habe die Ueber-
zeugung, daß er zwar hier aus dem Gefängniſſe entkom-
men iſt, ſich aber noch in der Stadt befindet.“
„Und weißt du auch, wie er entkommen iſt?“
„Nein; aber davon bin ich nun überzeugt, daß weder
der Agha noch die Wächter die Schuld tragen, daß es
ihm gelang.“
„Und wo ſoll er ſich verſteckt halten?“
„Das werde ich ſchon noch entdecken, und dabei ſollſt
du mir helfen, Effendi.“
„Ich? Gern, wenn ich es vermag.“
Ich hatte bei meinem Eintritte einen raſchen Blick
zur Treppe emporgeworfen und oben mehr Arnauten ſtehen
ſehen, als vorher hier poſtiert geweſen waren. Man hatte
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
May, Karl: Durchs Wilde Kurdistan. Freiburg (Breisgau), [1892], S. 339. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/may_kurdistan_1892/353>, abgerufen am 23.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.