"nicht da, wo sie sonst lebend zu sizzen pfleg- "te, oder vollends da, wo sie starb?" Er sah sich anfangs immer furchtsam um, so oft er diesen Gedanken hegte; aber er gewöhnte sich bald dran, und nahm sich nun, mit Grün- den, wie er glaubte, gewafnet, fest vor: noch einmal nicht nur hinzugehen, sondern auch seinen Vorsaz durchzusezzen, und wenn seine Frau doppelt dastünde.
Er ging. Jener zweimalige Anblick erneu- te sich richtig wieder. Aber der Verstockte blieb auf seinem Entschlus. Mit halb abge- wandtem Gesicht kam er bis dicht an die Thü- re; schob jenen lichten Schein, so däucht es ihm, gleichsam davon hinweg, und schloß dann ungehindert auf. Alles dies, so schau- derhaft es vielleicht für manche, ohnedem furchtsame Leser klingen mag, läßt sich doch durch ein klein wenig Seelenkunde leicht erklä- ren, ohne daß deshalb ein wirkliches Gespenst ins Spiel zu mischen wäre. Merkwürdig aber bleibt es doch, daß dieser so oft und so
„nicht da, wo ſie ſonſt lebend zu ſizzen pfleg- „te, oder vollends da, wo ſie ſtarb?“ Er ſah ſich anfangs immer furchtſam um, ſo oft er dieſen Gedanken hegte; aber er gewoͤhnte ſich bald dran, und nahm ſich nun, mit Gruͤn- den, wie er glaubte, gewafnet, feſt vor: noch einmal nicht nur hinzugehen, ſondern auch ſeinen Vorſaz durchzuſezzen, und wenn ſeine Frau doppelt daſtuͤnde.
Er ging. Jener zweimalige Anblick erneu- te ſich richtig wieder. Aber der Verſtockte blieb auf ſeinem Entſchlus. Mit halb abge- wandtem Geſicht kam er bis dicht an die Thuͤ- re; ſchob jenen lichten Schein, ſo daͤucht es ihm, gleichſam davon hinweg, und ſchloß dann ungehindert auf. Alles dies, ſo ſchau- derhaft es vielleicht fuͤr manche, ohnedem furchtſame Leſer klingen mag, laͤßt ſich doch durch ein klein wenig Seelenkunde leicht erklaͤ- ren, ohne daß deshalb ein wirkliches Geſpenſt ins Spiel zu miſchen waͤre. Merkwuͤrdig aber bleibt es doch, daß dieſer ſo oft und ſo
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„nicht da, wo ſie ſonſt lebend zu ſizzen pfleg-
„te, oder vollends da, wo ſie ſtarb?“ Er
ſah ſich anfangs immer furchtſam um, ſo oft
er dieſen Gedanken hegte; aber er gewoͤhnte
ſich bald dran, und nahm ſich nun, mit Gruͤn-
den, wie er glaubte, gewafnet, feſt vor: noch
einmal nicht nur hinzugehen, ſondern auch
ſeinen Vorſaz durchzuſezzen, und wenn ſeine
Frau doppelt daſtuͤnde.
Er ging. Jener zweimalige Anblick erneu-
te ſich richtig wieder. Aber der Verſtockte
blieb auf ſeinem Entſchlus. Mit halb abge-
wandtem Geſicht kam er bis dicht an die Thuͤ-
re; ſchob jenen lichten Schein, ſo daͤucht es
ihm, gleichſam davon hinweg, und ſchloß
dann ungehindert auf. Alles dies, ſo ſchau-
derhaft es vielleicht fuͤr manche, ohnedem
furchtſame Leſer klingen mag, laͤßt ſich doch
durch ein klein wenig Seelenkunde leicht erklaͤ-
ren, ohne daß deshalb ein wirkliches Geſpenſt
ins Spiel zu miſchen waͤre. Merkwuͤrdig
aber bleibt es doch, daß dieſer ſo oft und ſo
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Meißner, August Gottlieb: Kriminal Geschichten. Wien, 1796, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meissner_krimi_1796/120>, abgerufen am 23.11.2024.
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