zanken und vertragen uns in Briefen, unser ganzer Umgang ist Briefwechsel, und wenn wir zusammenkommen, so kennen wir keine andere Unterhaltung, als spielen oder vorlesen.
Daher ist es gekommen, daß der Mensch für den Menschen fast seinen Werth verloren hat. Der Umgang des Weisen wird nicht gesucht; denn wir finden seine Weisheit in Schriften. Alles was wir thun, ist ihn zum Schreiben auf- zumuntern, wenn wir etwa glauben, daß er noch nicht genug hat drucken lassen. Das graue Alter hat seine Ehrwürdigkeit verloren; denn der unbärtige Jüngling weis mehr aus Bü- chern, als jenes aus der Erfahrung. Wohlver- standen, oder übelverstanden, darauf kömmt es nicht an; genug er weis es, trägt es auf den Lippen, und kann es dreister an den Mann brin- gen, als der ehrliche Greis, dem vielleicht mehr die Begriffe, als die Worte zu Gebote stehen. Wir begreifen nicht mehr, wie der Prophet es hat für ein so erschreckliches Uebel halten kön- nen, daß der Jüngling sich erhebe über den Greis; oder wie jener Grieche dem Staate habe den Untergang prophezeihen können, weil in ei-
ner
zanken und vertragen uns in Briefen, unſer ganzer Umgang iſt Briefwechſel, und wenn wir zuſammenkommen, ſo kennen wir keine andere Unterhaltung, als ſpielen oder vorleſen.
Daher iſt es gekommen, daß der Menſch fuͤr den Menſchen faſt ſeinen Werth verloren hat. Der Umgang des Weiſen wird nicht geſucht; denn wir finden ſeine Weisheit in Schriften. Alles was wir thun, iſt ihn zum Schreiben auf- zumuntern, wenn wir etwa glauben, daß er noch nicht genug hat drucken laſſen. Das graue Alter hat ſeine Ehrwuͤrdigkeit verloren; denn der unbaͤrtige Juͤngling weis mehr aus Buͤ- chern, als jenes aus der Erfahrung. Wohlver- ſtanden, oder uͤbelverſtanden, darauf koͤmmt es nicht an; genug er weis es, traͤgt es auf den Lippen, und kann es dreiſter an den Mann brin- gen, als der ehrliche Greis, dem vielleicht mehr die Begriffe, als die Worte zu Gebote ſtehen. Wir begreifen nicht mehr, wie der Prophet es hat fuͤr ein ſo erſchreckliches Uebel halten koͤn- nen, daß der Juͤngling ſich erhebe uͤber den Greis; oder wie jener Grieche dem Staate habe den Untergang prophezeihen koͤnnen, weil in ei-
ner
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0164"n="62"/>
zanken und vertragen uns in Briefen, unſer<lb/>
ganzer Umgang iſt Briefwechſel, und wenn wir<lb/>
zuſammenkommen, ſo kennen wir keine andere<lb/>
Unterhaltung, als ſpielen oder <hirendition="#fr">vorleſen</hi>.</p><lb/><p>Daher iſt es gekommen, daß der Menſch fuͤr<lb/>
den Menſchen faſt ſeinen Werth verloren hat.<lb/>
Der Umgang des Weiſen wird nicht geſucht;<lb/>
denn wir finden ſeine Weisheit in Schriften.<lb/>
Alles was wir thun, iſt ihn zum Schreiben auf-<lb/>
zumuntern, wenn wir etwa glauben, daß er<lb/>
noch nicht genug hat drucken laſſen. Das graue<lb/>
Alter hat ſeine Ehrwuͤrdigkeit verloren; denn<lb/>
der unbaͤrtige Juͤngling weis mehr aus Buͤ-<lb/>
chern, als jenes aus der Erfahrung. Wohlver-<lb/>ſtanden, oder uͤbelverſtanden, darauf koͤmmt es<lb/>
nicht an; genug er weis es, traͤgt es auf den<lb/>
Lippen, und kann es dreiſter an den Mann brin-<lb/>
gen, als der ehrliche Greis, dem vielleicht mehr<lb/>
die Begriffe, als die Worte zu Gebote ſtehen.<lb/>
Wir begreifen nicht mehr, wie der Prophet es<lb/>
hat fuͤr ein ſo erſchreckliches Uebel halten koͤn-<lb/>
nen, <hirendition="#fr">daß der Juͤngling ſich erhebe uͤber den<lb/>
Greis</hi>; oder wie jener Grieche dem Staate habe<lb/>
den Untergang prophezeihen koͤnnen, weil in ei-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ner</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[62/0164]
zanken und vertragen uns in Briefen, unſer
ganzer Umgang iſt Briefwechſel, und wenn wir
zuſammenkommen, ſo kennen wir keine andere
Unterhaltung, als ſpielen oder vorleſen.
Daher iſt es gekommen, daß der Menſch fuͤr
den Menſchen faſt ſeinen Werth verloren hat.
Der Umgang des Weiſen wird nicht geſucht;
denn wir finden ſeine Weisheit in Schriften.
Alles was wir thun, iſt ihn zum Schreiben auf-
zumuntern, wenn wir etwa glauben, daß er
noch nicht genug hat drucken laſſen. Das graue
Alter hat ſeine Ehrwuͤrdigkeit verloren; denn
der unbaͤrtige Juͤngling weis mehr aus Buͤ-
chern, als jenes aus der Erfahrung. Wohlver-
ſtanden, oder uͤbelverſtanden, darauf koͤmmt es
nicht an; genug er weis es, traͤgt es auf den
Lippen, und kann es dreiſter an den Mann brin-
gen, als der ehrliche Greis, dem vielleicht mehr
die Begriffe, als die Worte zu Gebote ſtehen.
Wir begreifen nicht mehr, wie der Prophet es
hat fuͤr ein ſo erſchreckliches Uebel halten koͤn-
nen, daß der Juͤngling ſich erhebe uͤber den
Greis; oder wie jener Grieche dem Staate habe
den Untergang prophezeihen koͤnnen, weil in ei-
ner
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/164>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.