friedigende Antwort gegeben, möchte solche gern niemals schuldig bleiben. Da ist keine Fratze so ungeräumt, keine Posse so possenhaft, zu der man nicht seine Zuflucht nimmt, keine Fabel so vernunftlos, die man der Einfalt nicht einzubil- den suchet, um nur auf jedes Warum? also- fort mit einem Darum zur Hand seyn zu kön- nen. Unaussprechlich bitter wird das Wort: ich weis nicht! wenn man sich erst als ein vielwissender, oder gar alleswissender angekündi- get hat; insbesondere, wenn Stand und Amt und Würde von uns zu fordern scheine, daß wir wissen sollen. Ach! wie manchem mag das Herz schlagen, wenn er itzt auf dem Punkte ist, Gewicht und Ansehen zu verlieren, oder an der Wahrheit zum Verräther zu werden; und wie wenige besitzen die Klugheit des Sokrates, selbst in den Fällen, wo man etwas mehr weis, als sein Nächster, immer noch die erste Antwort seyn zu lassen: ich weis nichts! damit man sich selbst Verlegenheit erspare, und auf den Fall, da ein solches Bekenntniß nöthig seyn würde, die Selbstdemüthigung zum voraus leichter gemacht habe.
Indessen
friedigende Antwort gegeben, moͤchte ſolche gern niemals ſchuldig bleiben. Da iſt keine Fratze ſo ungeraͤumt, keine Poſſe ſo poſſenhaft, zu der man nicht ſeine Zuflucht nimmt, keine Fabel ſo vernunftlos, die man der Einfalt nicht einzubil- den ſuchet, um nur auf jedes Warum? alſo- fort mit einem Darum zur Hand ſeyn zu koͤn- nen. Unausſprechlich bitter wird das Wort: ich weis nicht! wenn man ſich erſt als ein vielwiſſender, oder gar alleswiſſender angekuͤndi- get hat; insbeſondere, wenn Stand und Amt und Wuͤrde von uns zu fordern ſcheine, daß wir wiſſen ſollen. Ach! wie manchem mag das Herz ſchlagen, wenn er itzt auf dem Punkte iſt, Gewicht und Anſehen zu verlieren, oder an der Wahrheit zum Verraͤther zu werden; und wie wenige beſitzen die Klugheit des Sokrates, ſelbſt in den Faͤllen, wo man etwas mehr weis, als ſein Naͤchſter, immer noch die erſte Antwort ſeyn zu laſſen: ich weis nichts! damit man ſich ſelbſt Verlegenheit erſpare, und auf den Fall, da ein ſolches Bekenntniß noͤthig ſeyn wuͤrde, die Selbſtdemuͤthigung zum voraus leichter gemacht habe.
Indeſſen
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friedigende Antwort gegeben, moͤchte ſolche gern
niemals ſchuldig bleiben. Da iſt keine Fratze ſo
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man nicht ſeine Zuflucht nimmt, keine Fabel ſo
vernunftlos, die man der Einfalt nicht einzubil-
den ſuchet, um nur auf jedes Warum? alſo-
fort mit einem Darum zur Hand ſeyn zu koͤn-
nen. Unausſprechlich bitter wird das Wort:
ich weis nicht! wenn man ſich erſt als ein
vielwiſſender, oder gar alleswiſſender angekuͤndi-
get hat; insbeſondere, wenn Stand und Amt
und Wuͤrde von uns zu fordern ſcheine, daß
wir wiſſen ſollen. Ach! wie manchem mag das
Herz ſchlagen, wenn er itzt auf dem Punkte iſt,
Gewicht und Anſehen zu verlieren, oder an der
Wahrheit zum Verraͤther zu werden; und wie
wenige beſitzen die Klugheit des Sokrates, ſelbſt
in den Faͤllen, wo man etwas mehr weis, als
ſein Naͤchſter, immer noch die erſte Antwort ſeyn
zu laſſen: ich weis nichts! damit man ſich
ſelbſt Verlegenheit erſpare, und auf den Fall,
da ein ſolches Bekenntniß noͤthig ſeyn wuͤrde, die
Selbſtdemuͤthigung zum voraus leichter gemacht
habe.
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Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/181>, abgerufen am 16.07.2024.
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