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Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783.

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stehen, so sollte man glauben, sie wären keiner
Mißdeutung fähig; man müßte sie für willkühr-
liche Schriftzeichen der Begriffe nehmen, oder
als unverständlich dahin gestellt seyn lassen.
Hier sollte man meinen, kan der roheste Ver-
stand nicht Zeichen mit Sachen verwechseln, und
aller Mißbrauch wäre durch diesen feinen Kunst-
begriff verhütet. Wem die Zahlen nicht ver-
ständlich sind, dem sind sie leere Figuren. Wen
sie nicht aufklären, den können sie wenigstens
nicht verführen.

So konnte sich der große Stifter dieser Schu-
le bereden. Allein gar bald gieng in dieser
Schule selbst der Unverstand seinen alten Gang.
Unzufrieden mit dem, was man so verständlich,
so begreiflich fand, suchte man in den Zahlen
selbst eine geheime Kraft, in den Zeichen aber-
mals eine unerklärbare Realität, wodurch aber-
mals ihr Werth als Zeichen verloren ging.
Man glaubte, oder machte wenigstens andere
glauben, daß in diesen Zahlen alle Geheimnisse
der Natur und der Gottheit verborgen lägen,
schrieb ihnen wunderthätige Kraft zu, und woll-
te durch und vermittelst derselben nicht nur die

Neu-

ſtehen, ſo ſollte man glauben, ſie waͤren keiner
Mißdeutung faͤhig; man muͤßte ſie fuͤr willkuͤhr-
liche Schriftzeichen der Begriffe nehmen, oder
als unverſtaͤndlich dahin geſtellt ſeyn laſſen.
Hier ſollte man meinen, kan der roheſte Ver-
ſtand nicht Zeichen mit Sachen verwechſeln, und
aller Mißbrauch waͤre durch dieſen feinen Kunſt-
begriff verhuͤtet. Wem die Zahlen nicht ver-
ſtaͤndlich ſind, dem ſind ſie leere Figuren. Wen
ſie nicht aufklaͤren, den koͤnnen ſie wenigſtens
nicht verfuͤhren.

So konnte ſich der große Stifter dieſer Schu-
le bereden. Allein gar bald gieng in dieſer
Schule ſelbſt der Unverſtand ſeinen alten Gang.
Unzufrieden mit dem, was man ſo verſtaͤndlich,
ſo begreiflich fand, ſuchte man in den Zahlen
ſelbſt eine geheime Kraft, in den Zeichen aber-
mals eine unerklaͤrbare Realitaͤt, wodurch aber-
mals ihr Werth als Zeichen verloren ging.
Man glaubte, oder machte wenigſtens andere
glauben, daß in dieſen Zahlen alle Geheimniſſe
der Natur und der Gottheit verborgen laͤgen,
ſchrieb ihnen wunderthaͤtige Kraft zu, und woll-
te durch und vermittelſt derſelben nicht nur die

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[92/0194] ſtehen, ſo ſollte man glauben, ſie waͤren keiner Mißdeutung faͤhig; man muͤßte ſie fuͤr willkuͤhr- liche Schriftzeichen der Begriffe nehmen, oder als unverſtaͤndlich dahin geſtellt ſeyn laſſen. Hier ſollte man meinen, kan der roheſte Ver- ſtand nicht Zeichen mit Sachen verwechſeln, und aller Mißbrauch waͤre durch dieſen feinen Kunſt- begriff verhuͤtet. Wem die Zahlen nicht ver- ſtaͤndlich ſind, dem ſind ſie leere Figuren. Wen ſie nicht aufklaͤren, den koͤnnen ſie wenigſtens nicht verfuͤhren. So konnte ſich der große Stifter dieſer Schu- le bereden. Allein gar bald gieng in dieſer Schule ſelbſt der Unverſtand ſeinen alten Gang. Unzufrieden mit dem, was man ſo verſtaͤndlich, ſo begreiflich fand, ſuchte man in den Zahlen ſelbſt eine geheime Kraft, in den Zeichen aber- mals eine unerklaͤrbare Realitaͤt, wodurch aber- mals ihr Werth als Zeichen verloren ging. Man glaubte, oder machte wenigſtens andere glauben, daß in dieſen Zahlen alle Geheimniſſe der Natur und der Gottheit verborgen laͤgen, ſchrieb ihnen wunderthaͤtige Kraft zu, und woll- te durch und vermittelſt derſelben nicht nur die Neu-

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Zitationshilfe: Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/194>, abgerufen am 18.05.2024.