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Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783.

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unerklärbar! Die bürgerlichen Bande der Na-
tion waren aufgelöset, religiose Vergehungen
waren keine Staatsverbrechen mehr, und die
Religion, als Religion kennet keine Strafen,
keine andere Busse, als die der reuevolle Sün-
der sich freywillig auferlegt. Sie weis von
keinem Zwange, wirkt nur mit dem Stabe ge-
linde, wirkt nur auf Geist und Herz. Man
versuche es, diese Behauptung der Rabbinen,
ohne meine Grundsätze, vernünftig zu erklären!

"Wozu nun, höre ich manchen Leser fragen;
"wozu diese Weitläuftigkeit, uns etwas sehr
"bekanntes zu sagen? Das Judentum war ei-
"ne Hierokratie, eine kirchliche Regierung, ein
"Priesterstaat, eine Theokratie, wenn ihr wol-
"let. Wir kennen die Anmaßungen schon, die
"sich eine solche Verfassung erlaubt."

Nicht doch! alle diese Kunstnamen werfen
auf die Sache ein falsches Licht, das ich ver-
meiden mußte. Wir wollen immer nur classi-
ficiren, in Fächer abtheilen. Wenn wir nur
wissen, in welches Fach ein Ding einzutragen
sey; so sind wir zufrieden, so unvollständig der
Begriff auch übrigens seyn mag, den wir da-

von

unerklaͤrbar! Die buͤrgerlichen Bande der Na-
tion waren aufgeloͤſet, religioſe Vergehungen
waren keine Staatsverbrechen mehr, und die
Religion, als Religion kennet keine Strafen,
keine andere Buſſe, als die der reuevolle Suͤn-
der ſich freywillig auferlegt. Sie weis von
keinem Zwange, wirkt nur mit dem Stabe ge-
linde, wirkt nur auf Geiſt und Herz. Man
verſuche es, dieſe Behauptung der Rabbinen,
ohne meine Grundſaͤtze, vernuͤnftig zu erklaͤren!

„Wozu nun, hoͤre ich manchen Leſer fragen;
„wozu dieſe Weitlaͤuftigkeit, uns etwas ſehr
„bekanntes zu ſagen? Das Judentum war ei-
„ne Hierokratie, eine kirchliche Regierung, ein
„Prieſterſtaat, eine Theokratie, wenn ihr wol-
„let. Wir kennen die Anmaßungen ſchon, die
„ſich eine ſolche Verfaſſung erlaubt.“

Nicht doch! alle dieſe Kunſtnamen werfen
auf die Sache ein falſches Licht, das ich ver-
meiden mußte. Wir wollen immer nur claſſi-
ficiren, in Faͤcher abtheilen. Wenn wir nur
wiſſen, in welches Fach ein Ding einzutragen
ſey; ſo ſind wir zufrieden, ſo unvollſtaͤndig der
Begriff auch uͤbrigens ſeyn mag, den wir da-

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[122/0224] unerklaͤrbar! Die buͤrgerlichen Bande der Na- tion waren aufgeloͤſet, religioſe Vergehungen waren keine Staatsverbrechen mehr, und die Religion, als Religion kennet keine Strafen, keine andere Buſſe, als die der reuevolle Suͤn- der ſich freywillig auferlegt. Sie weis von keinem Zwange, wirkt nur mit dem Stabe ge- linde, wirkt nur auf Geiſt und Herz. Man verſuche es, dieſe Behauptung der Rabbinen, ohne meine Grundſaͤtze, vernuͤnftig zu erklaͤren! „Wozu nun, hoͤre ich manchen Leſer fragen; „wozu dieſe Weitlaͤuftigkeit, uns etwas ſehr „bekanntes zu ſagen? Das Judentum war ei- „ne Hierokratie, eine kirchliche Regierung, ein „Prieſterſtaat, eine Theokratie, wenn ihr wol- „let. Wir kennen die Anmaßungen ſchon, die „ſich eine ſolche Verfaſſung erlaubt.“ Nicht doch! alle dieſe Kunſtnamen werfen auf die Sache ein falſches Licht, das ich ver- meiden mußte. Wir wollen immer nur claſſi- ficiren, in Faͤcher abtheilen. Wenn wir nur wiſſen, in welches Fach ein Ding einzutragen ſey; ſo ſind wir zufrieden, ſo unvollſtaͤndig der Begriff auch uͤbrigens ſeyn mag, den wir da- von

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Zitationshilfe: Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/224>, abgerufen am 17.05.2024.