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Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783.

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der vielleicht an Zeit und Ort und Umstände ge-
bunden gewesen, vielleicht mit Zeit und Ort
und Umständen verändert werden kann -- wenn
es dem allerhöchsten Gesetzgeber gefallen wird,
uns seinen Willen darüber zu erkennen zu geben;
so laut, so öffentlich, so über alle Zweifel und
Bedenklichkeit hinweg zu erkennen zu geben, als
Er das Gesetz selbst gegeben hat. So lange die-
ses nicht geschiehet, so lange wir keine so au-
thentische Befreyung vom Gesetze aufzuweisen
haben, kann uns unsere Vernünfteley nicht von
dem strengen Gehorsam befreyen, den wir dem
Gesetze schuldig sind, und die Ehrfurcht vor Gott
ziehet eine Gränze zwischen Spekulation und
Ausübung, die kein Gewissenhafter überschreiten
darf. Darum wiederhole ich meine vorausge-
schickte Protestation: Schwach und kurzsichtig
ist des Menschen Auge! Wer kann sagen: ich
bin in das Heiligtum Gottes gekommen, habe
das System seiner Absichten ganz durchschauet,
und was ihnen Maaß und Ziel und Gränze zu
bestimmen? Ich kann vermuthen, aber nicht
entscheiden, aber nicht nach meiner Vermuthung
handeln -- Darf ich doch in menschlichen

Dingen

der vielleicht an Zeit und Ort und Umſtaͤnde ge-
bunden geweſen, vielleicht mit Zeit und Ort
und Umſtaͤnden veraͤndert werden kann — wenn
es dem allerhoͤchſten Geſetzgeber gefallen wird,
uns ſeinen Willen daruͤber zu erkennen zu geben;
ſo laut, ſo oͤffentlich, ſo uͤber alle Zweifel und
Bedenklichkeit hinweg zu erkennen zu geben, als
Er das Geſetz ſelbſt gegeben hat. So lange die-
ſes nicht geſchiehet, ſo lange wir keine ſo au-
thentiſche Befreyung vom Geſetze aufzuweiſen
haben, kann uns unſere Vernuͤnfteley nicht von
dem ſtrengen Gehorſam befreyen, den wir dem
Geſetze ſchuldig ſind, und die Ehrfurcht vor Gott
ziehet eine Graͤnze zwiſchen Spekulation und
Ausuͤbung, die kein Gewiſſenhafter uͤberſchreiten
darf. Darum wiederhole ich meine vorausge-
ſchickte Proteſtation: Schwach und kurzſichtig
iſt des Menſchen Auge! Wer kann ſagen: ich
bin in das Heiligtum Gottes gekommen, habe
das Syſtem ſeiner Abſichten ganz durchſchauet,
und was ihnen Maaß und Ziel und Graͤnze zu
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[128/0230] der vielleicht an Zeit und Ort und Umſtaͤnde ge- bunden geweſen, vielleicht mit Zeit und Ort und Umſtaͤnden veraͤndert werden kann — wenn es dem allerhoͤchſten Geſetzgeber gefallen wird, uns ſeinen Willen daruͤber zu erkennen zu geben; ſo laut, ſo oͤffentlich, ſo uͤber alle Zweifel und Bedenklichkeit hinweg zu erkennen zu geben, als Er das Geſetz ſelbſt gegeben hat. So lange die- ſes nicht geſchiehet, ſo lange wir keine ſo au- thentiſche Befreyung vom Geſetze aufzuweiſen haben, kann uns unſere Vernuͤnfteley nicht von dem ſtrengen Gehorſam befreyen, den wir dem Geſetze ſchuldig ſind, und die Ehrfurcht vor Gott ziehet eine Graͤnze zwiſchen Spekulation und Ausuͤbung, die kein Gewiſſenhafter uͤberſchreiten darf. Darum wiederhole ich meine vorausge- ſchickte Proteſtation: Schwach und kurzſichtig iſt des Menſchen Auge! Wer kann ſagen: ich bin in das Heiligtum Gottes gekommen, habe das Syſtem ſeiner Abſichten ganz durchſchauet, und was ihnen Maaß und Ziel und Graͤnze zu beſtimmen? Ich kann vermuthen, aber nicht entſcheiden, aber nicht nach meiner Vermuthung handeln — Darf ich doch in menſchlichen Dingen

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Zitationshilfe: Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/230>, abgerufen am 24.11.2024.