Alles Beschwören und Abschwören in Ab- sicht auf Grundsätze und Lehrmeinungen sind diesemnach unzulässig, und wenn sie geleistet worden, so verbinden sie zu nichts, als zur Reue: über den sträflich begangenen Leichtsinn. Wenn ich itzt eine Meinung beschwöre; so bin ich Augenblicks darauf nichts desto weniger frey, sie zu verwerfen. Die Unthat eines ver- geblichen Eides ist begangen, wenn ich sie auch beybehalte; und Meineid ist nicht geschehen, wenn ich sie verwerfe.
Man vergesse nicht, daß nach meinen Grundsätzen der Staat nicht befugt sey, mit gewissen bestimmten Lehrmeinungen, Besol- dung, Ehrenamt und Vorzug zu verbinden. Was das Lehramt betrift; so ist es seine Pflicht, Lehrer zu bestellen, die Fähigkeit ha- ben, Weisheit und Tugend zu lehren, und solche nützliche Wahrheiten zu verbreiten, auf denen die Glückseligkeit der menschlichen Gesell- schaft unmittelbar beruhet. Alle nähere Be- stimmungen müssen ihrem besten Wissen und Ge- wissen überlassen werden, wo nicht unendliche
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Alles Beſchwoͤren und Abſchwoͤren in Ab- ſicht auf Grundſaͤtze und Lehrmeinungen ſind dieſemnach unzulaͤſſig, und wenn ſie geleiſtet worden, ſo verbinden ſie zu nichts, als zur Reue: uͤber den ſtraͤflich begangenen Leichtſinn. Wenn ich itzt eine Meinung beſchwoͤre; ſo bin ich Augenblicks darauf nichts deſto weniger frey, ſie zu verwerfen. Die Unthat eines ver- geblichen Eides iſt begangen, wenn ich ſie auch beybehalte; und Meineid iſt nicht geſchehen, wenn ich ſie verwerfe.
Man vergeſſe nicht, daß nach meinen Grundſaͤtzen der Staat nicht befugt ſey, mit gewiſſen beſtimmten Lehrmeinungen, Beſol- dung, Ehrenamt und Vorzug zu verbinden. Was das Lehramt betrift; ſo iſt es ſeine Pflicht, Lehrer zu beſtellen, die Faͤhigkeit ha- ben, Weisheit und Tugend zu lehren, und ſolche nuͤtzliche Wahrheiten zu verbreiten, auf denen die Gluͤckſeligkeit der menſchlichen Geſell- ſchaft unmittelbar beruhet. Alle naͤhere Be- ſtimmungen muͤſſen ihrem beſten Wiſſen und Ge- wiſſen uͤberlaſſen werden, wo nicht unendliche
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Alles Beſchwoͤren und Abſchwoͤren in Ab-
ſicht auf Grundſaͤtze und Lehrmeinungen ſind
dieſemnach unzulaͤſſig, und wenn ſie geleiſtet
worden, ſo verbinden ſie zu nichts, als zur
Reue: uͤber den ſtraͤflich begangenen Leichtſinn.
Wenn ich itzt eine Meinung beſchwoͤre; ſo bin
ich Augenblicks darauf nichts deſto weniger
frey, ſie zu verwerfen. Die Unthat eines ver-
geblichen Eides iſt begangen, wenn ich ſie auch
beybehalte; und Meineid iſt nicht geſchehen,
wenn ich ſie verwerfe.
Man vergeſſe nicht, daß nach meinen
Grundſaͤtzen der Staat nicht befugt ſey, mit
gewiſſen beſtimmten Lehrmeinungen, Beſol-
dung, Ehrenamt und Vorzug zu verbinden.
Was das Lehramt betrift; ſo iſt es ſeine
Pflicht, Lehrer zu beſtellen, die Faͤhigkeit ha-
ben, Weisheit und Tugend zu lehren, und
ſolche nuͤtzliche Wahrheiten zu verbreiten, auf
denen die Gluͤckſeligkeit der menſchlichen Geſell-
ſchaft unmittelbar beruhet. Alle naͤhere Be-
ſtimmungen muͤſſen ihrem beſten Wiſſen und Ge-
wiſſen uͤberlaſſen werden, wo nicht unendliche
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Mendelssohn, Moses: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judenthum. Berlin, 1783, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mendelssohn_jerusalem_1783/93>, abgerufen am 16.07.2024.
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