ganisch inwohnt, wie er ganzen Generationen der Vergangenheit ingewohnt. Unstreitig hat es zu allen Zeiten Charaktere gegeben, die als Repräsentanten einer andern künftigen oder vergangenen Zeit betrach¬ tet werden müssen. Wie im Mittelalter selbst Arnold von Brescia, Petrarca und andre Vorboten der neuen Zeit, und von protestantisch-republikanischem Geist durchdrungen gewesen, so hat unsre Zeit wieder ihre Repräsentanten des Mittelalters, die nicht auf eine äußere Weise durch Liebhaberei an jene Vergangen¬ heit geknüpft, sondern innerlich von ihrem Wesen be¬ seelt, organisch mit ihr verwachsen sind. Sie leben, denken und empfinden nur im Sinn des Mittelalters, alles tritt ihnen unter diesen Gesichtspunkt, und wenn sie zugleich die Bildung der neuern Zeit in sich aufgenommen, so huldigt dieselbe doch der mittelal¬ terlichen Idee, und dient nur, das Licht derselben in einer neuen Welt von Bildern, Gedanken und Em¬ pfindungen auszustrahlen. In dieser Weise haben Tieck und Görres uns die Tiefen jener Weltansicht offenbart, die als die bewegende Seele einer der größten Epochen der Geschichte mit der Entwicklung des Geschlechts innig zusammenhängt und in der menschlichen Natur tiefe Wurzeln geschlagen, eine Weltansicht, die dem Mittelalter unter den Bedin¬ gungen einer reichern Natur und einer minder vor¬ geschrittenen Cultur offenbart worden, deren Vermitt¬ lung für den Culturzustand in unsrer Zeit aber noth¬ wendig einmal erfolgen mußte. Tieck hat als Dich¬
ganiſch inwohnt, wie er ganzen Generationen der Vergangenheit ingewohnt. Unſtreitig hat es zu allen Zeiten Charaktere gegeben, die als Repraͤſentanten einer andern kuͤnftigen oder vergangenen Zeit betrach¬ tet werden muͤſſen. Wie im Mittelalter ſelbſt Arnold von Brescia, Petrarca und andre Vorboten der neuen Zeit, und von proteſtantiſch-republikaniſchem Geiſt durchdrungen geweſen, ſo hat unſre Zeit wieder ihre Repraͤſentanten des Mittelalters, die nicht auf eine aͤußere Weiſe durch Liebhaberei an jene Vergangen¬ heit geknuͤpft, ſondern innerlich von ihrem Weſen be¬ ſeelt, organiſch mit ihr verwachſen ſind. Sie leben, denken und empfinden nur im Sinn des Mittelalters, alles tritt ihnen unter dieſen Geſichtspunkt, und wenn ſie zugleich die Bildung der neuern Zeit in ſich aufgenommen, ſo huldigt dieſelbe doch der mittelal¬ terlichen Idee, und dient nur, das Licht derſelben in einer neuen Welt von Bildern, Gedanken und Em¬ pfindungen auszuſtrahlen. In dieſer Weiſe haben Tieck und Goͤrres uns die Tiefen jener Weltanſicht offenbart, die als die bewegende Seele einer der groͤßten Epochen der Geſchichte mit der Entwicklung des Geſchlechts innig zuſammenhaͤngt und in der menſchlichen Natur tiefe Wurzeln geſchlagen, eine Weltanſicht, die dem Mittelalter unter den Bedin¬ gungen einer reichern Natur und einer minder vor¬ geſchrittenen Cultur offenbart worden, deren Vermitt¬ lung fuͤr den Culturzuſtand in unſrer Zeit aber noth¬ wendig einmal erfolgen mußte. Tieck hat als Dich¬
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ganiſch inwohnt, wie er ganzen Generationen der
Vergangenheit ingewohnt. Unſtreitig hat es zu allen
Zeiten Charaktere gegeben, die als Repraͤſentanten
einer andern kuͤnftigen oder vergangenen Zeit betrach¬
tet werden muͤſſen. Wie im Mittelalter ſelbſt Arnold
von Brescia, Petrarca und andre Vorboten der neuen
Zeit, und von proteſtantiſch-republikaniſchem Geiſt
durchdrungen geweſen, ſo hat unſre Zeit wieder ihre
Repraͤſentanten des Mittelalters, die nicht auf eine
aͤußere Weiſe durch Liebhaberei an jene Vergangen¬
heit geknuͤpft, ſondern innerlich von ihrem Weſen be¬
ſeelt, organiſch mit ihr verwachſen ſind. Sie leben,
denken und empfinden nur im Sinn des Mittelalters,
alles tritt ihnen unter dieſen Geſichtspunkt, und
wenn ſie zugleich die Bildung der neuern Zeit in ſich
aufgenommen, ſo huldigt dieſelbe doch der mittelal¬
terlichen Idee, und dient nur, das Licht derſelben in
einer neuen Welt von Bildern, Gedanken und Em¬
pfindungen auszuſtrahlen. In dieſer Weiſe haben
Tieck und Goͤrres uns die Tiefen jener Weltanſicht
offenbart, die als die bewegende Seele einer der
groͤßten Epochen der Geſchichte mit der Entwicklung
des Geſchlechts innig zuſammenhaͤngt und in der
menſchlichen Natur tiefe Wurzeln geſchlagen, eine
Weltanſicht, die dem Mittelalter unter den Bedin¬
gungen einer reichern Natur und einer minder vor¬
geſchrittenen Cultur offenbart worden, deren Vermitt¬
lung fuͤr den Culturzuſtand in unſrer Zeit aber noth¬
wendig einmal erfolgen mußte. Tieck hat als Dich¬
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/116>, abgerufen am 26.11.2024.
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