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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

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können. Beide treibt die Verzweiflung eines unna¬
türlichen Verhältnisses auch zu eigner Unnatur, die
ihnen zuletzt zur andern Natur wird. Die Süßig¬
keit, das Vertrauen und die stille Macht der Liebe
werden Gift, Verrath, Gewaltthat.

Es ist in der That ein erhabenes und ächt tra¬
gisches Schauspiel, das uns die alte Kirche gewährt,
bald Medea, bald Niobe, bald Entsetzen, bald Weh¬
muth erweckend. Unheilbar verwundet, kann sie doch
nicht sterben. Von einer Fülle innerer Ideen ge¬
schwellt, findet sie nirgends Raum. An Herrschaft
und Liebe gewöhnt, findet sie keine Arme und keine
Herzen. Wie der alte König Lear ward sie versto¬
ßen und mußte betteln von den kaiserlichen Schwie¬
gersöhnen und ward mißhandelt, geplündert, gefan¬
gen, und sah die geliebte und verkannte Cordelia,
des Herzens tiefen Glauben, grausam gemordet. Jetzt
hat man sie endlich wieder befreit und ehrt ihr Alter
und läßt sie wieder regieren unter einer sanften Vor¬
mundschaft. Sie lebt nun auf, aber was soll aus
ihr werden? Mit ihrem Anspruch auf die höchste
Autorität tritt sie wieder in die Mitte so vieler
andrer Ansprüche, die Gewalt und Besitz und das
Zeitalter für sich haben. Mit Liebe soll sie regieren,
und die Sklaven, die sich ihr zum Dienst aufdrän¬
gen, kennen nur List und Gewalt.

Der Ultramontanismus hat es seit der Refor¬
mation wohl gefühlt, daß er mit doppelter Zunge
reden müsse, mit der göttlichen und menschlichen, mit

koͤnnen. Beide treibt die Verzweiflung eines unna¬
tuͤrlichen Verhaͤltniſſes auch zu eigner Unnatur, die
ihnen zuletzt zur andern Natur wird. Die Suͤßig¬
keit, das Vertrauen und die ſtille Macht der Liebe
werden Gift, Verrath, Gewaltthat.

Es iſt in der That ein erhabenes und aͤcht tra¬
giſches Schauſpiel, das uns die alte Kirche gewaͤhrt,
bald Medea, bald Niobe, bald Entſetzen, bald Weh¬
muth erweckend. Unheilbar verwundet, kann ſie doch
nicht ſterben. Von einer Fuͤlle innerer Ideen ge¬
ſchwellt, findet ſie nirgends Raum. An Herrſchaft
und Liebe gewoͤhnt, findet ſie keine Arme und keine
Herzen. Wie der alte Koͤnig Lear ward ſie verſto¬
ßen und mußte betteln von den kaiſerlichen Schwie¬
gerſoͤhnen und ward mißhandelt, gepluͤndert, gefan¬
gen, und ſah die geliebte und verkannte Cordelia,
des Herzens tiefen Glauben, grauſam gemordet. Jetzt
hat man ſie endlich wieder befreit und ehrt ihr Alter
und laͤßt ſie wieder regieren unter einer ſanften Vor¬
mundſchaft. Sie lebt nun auf, aber was ſoll aus
ihr werden? Mit ihrem Anſpruch auf die hoͤchſte
Autoritaͤt tritt ſie wieder in die Mitte ſo vieler
andrer Anſpruͤche, die Gewalt und Beſitz und das
Zeitalter fuͤr ſich haben. Mit Liebe ſoll ſie regieren,
und die Sklaven, die ſich ihr zum Dienſt aufdraͤn¬
gen, kennen nur Liſt und Gewalt.

Der Ultramontanismus hat es ſeit der Refor¬
mation wohl gefuͤhlt, daß er mit doppelter Zunge
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[108/0118] koͤnnen. Beide treibt die Verzweiflung eines unna¬ tuͤrlichen Verhaͤltniſſes auch zu eigner Unnatur, die ihnen zuletzt zur andern Natur wird. Die Suͤßig¬ keit, das Vertrauen und die ſtille Macht der Liebe werden Gift, Verrath, Gewaltthat. Es iſt in der That ein erhabenes und aͤcht tra¬ giſches Schauſpiel, das uns die alte Kirche gewaͤhrt, bald Medea, bald Niobe, bald Entſetzen, bald Weh¬ muth erweckend. Unheilbar verwundet, kann ſie doch nicht ſterben. Von einer Fuͤlle innerer Ideen ge¬ ſchwellt, findet ſie nirgends Raum. An Herrſchaft und Liebe gewoͤhnt, findet ſie keine Arme und keine Herzen. Wie der alte Koͤnig Lear ward ſie verſto¬ ßen und mußte betteln von den kaiſerlichen Schwie¬ gerſoͤhnen und ward mißhandelt, gepluͤndert, gefan¬ gen, und ſah die geliebte und verkannte Cordelia, des Herzens tiefen Glauben, grauſam gemordet. Jetzt hat man ſie endlich wieder befreit und ehrt ihr Alter und laͤßt ſie wieder regieren unter einer ſanften Vor¬ mundſchaft. Sie lebt nun auf, aber was ſoll aus ihr werden? Mit ihrem Anſpruch auf die hoͤchſte Autoritaͤt tritt ſie wieder in die Mitte ſo vieler andrer Anſpruͤche, die Gewalt und Beſitz und das Zeitalter fuͤr ſich haben. Mit Liebe ſoll ſie regieren, und die Sklaven, die ſich ihr zum Dienſt aufdraͤn¬ gen, kennen nur Liſt und Gewalt. Der Ultramontanismus hat es ſeit der Refor¬ mation wohl gefuͤhlt, daß er mit doppelter Zunge reden muͤſſe, mit der goͤttlichen und menſchlichen, mit

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/118>, abgerufen am 26.11.2024.