Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.Man will ein Ideal, Menschen, wie sie nicht sind, Die deutschen Liberalen haben das Ausgezeich¬ Man will ein Ideal, Menſchen, wie ſie nicht ſind, Die deutſchen Liberalen haben das Ausgezeich¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0235" n="225"/> Man will ein <hi rendition="#g">Ideal</hi>, Menſchen, wie ſie nicht ſind,<lb/> ſondern ſeyn ſollen, und dieſes Ideal erblickt man<lb/> nur in Viſionen der <hi rendition="#g">Zukunft</hi>. Die allgemeine Tu¬<lb/> gendrepublik iſt noch nicht da, aber man ſtrebt da¬<lb/> hin. Indem man die Idee derſelben beſtaͤndig vor<lb/> Augen hat, ſucht man die Hemmungen derſelben zu<lb/> beſeitigen und kaͤmpft gegen den wirklichen Beſtand<lb/> der Dinge. Dadurch eignen ſich die Liberalen das<lb/> Princip, die Vortheile und das Verdienſt des Fort¬<lb/> ſchritts, der ewigen Entwicklung an. Sie bringen<lb/> Leben in die Welt, ſichern vor Erſtarrung, und wenn<lb/> ſie auch den Schatz nicht heben, ſo arbeiten ſie doch<lb/> den Weinberg um.</p><lb/> <p>Die deutſchen Liberalen haben das Ausgezeich¬<lb/> nete, daß ſie die Freiheit nicht als ein Recht, ſon¬<lb/> dern als eine <hi rendition="#g">Pflicht</hi> betrachten. Überhaupt ſind<lb/> wir Deutſche ſehr moraliſch. Wir unterſuchen mehr<lb/> die Schuldigkeiten, als die Forderungen des Men¬<lb/> ſchen. Das Recht ſcheint uns erſt dann von ſelbſt<lb/> zu entſpringen, wenn jeder ſeine Pflicht thut. Bei<lb/> andern Nationen dreht ſich aller politiſche Streit<lb/> immer um die Rechte. Namentlich haben die Fran¬<lb/> zoſen von allen Parteien den beſten politiſchen Zu¬<lb/> ſtand, bei den einen die Freiheit, bei den andern die<lb/> Autokratie, immer als ein Recht zu behaupten ge¬<lb/> trachtet, die einen als ein urſpruͤngliches Menſchen¬<lb/> recht, die andern als ein hiſtoriſches altes Recht.<lb/> Erſt vor kurzem haben ſie auch den Grundſatz: Das<lb/> Recht ſey nur die Pflicht! geltend zu machen ver¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [225/0235]
Man will ein Ideal, Menſchen, wie ſie nicht ſind,
ſondern ſeyn ſollen, und dieſes Ideal erblickt man
nur in Viſionen der Zukunft. Die allgemeine Tu¬
gendrepublik iſt noch nicht da, aber man ſtrebt da¬
hin. Indem man die Idee derſelben beſtaͤndig vor
Augen hat, ſucht man die Hemmungen derſelben zu
beſeitigen und kaͤmpft gegen den wirklichen Beſtand
der Dinge. Dadurch eignen ſich die Liberalen das
Princip, die Vortheile und das Verdienſt des Fort¬
ſchritts, der ewigen Entwicklung an. Sie bringen
Leben in die Welt, ſichern vor Erſtarrung, und wenn
ſie auch den Schatz nicht heben, ſo arbeiten ſie doch
den Weinberg um.
Die deutſchen Liberalen haben das Ausgezeich¬
nete, daß ſie die Freiheit nicht als ein Recht, ſon¬
dern als eine Pflicht betrachten. Überhaupt ſind
wir Deutſche ſehr moraliſch. Wir unterſuchen mehr
die Schuldigkeiten, als die Forderungen des Men¬
ſchen. Das Recht ſcheint uns erſt dann von ſelbſt
zu entſpringen, wenn jeder ſeine Pflicht thut. Bei
andern Nationen dreht ſich aller politiſche Streit
immer um die Rechte. Namentlich haben die Fran¬
zoſen von allen Parteien den beſten politiſchen Zu¬
ſtand, bei den einen die Freiheit, bei den andern die
Autokratie, immer als ein Recht zu behaupten ge¬
trachtet, die einen als ein urſpruͤngliches Menſchen¬
recht, die andern als ein hiſtoriſches altes Recht.
Erſt vor kurzem haben ſie auch den Grundſatz: Das
Recht ſey nur die Pflicht! geltend zu machen ver¬
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