Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

einem höhern Gut oder verlangen mehr von ihr, als
sie bedürfen. Doch können noch alle Ansprüche des
Geistes an die Natur in ihre Schranken gewiesen
werden; nur der Geist selbst wird beständig mit sich
selber kämpfen. Alle Menschen können an einem Tisch
essen, ein Kleid tragen, ein Tagewerk vollbringen,
denn alle sind am Körper gleich, ihre Geister sind
aber von Natur aus verschieden und darauf beruht
der Kampf, ohne den das ganze Leben, diese ganze
Weltepoche, in der wir begriffen sind, nichtig wäre.

Die geistigen Vermögen und Neigungen sind un¬
gleich nicht nur an die Individuen, auch an die Völ¬
ker vertheilt. Überall auf der Erde leben Menschen
und sind den gleichen physischen Bedingungen unter¬
worfen, aber ihre Geister sind so verschieden, als die
Animalisation und Vegetation, und der Geist wieder¬
holt auf einer höhern Stufe, was die Natur auf der
niedern zeigt, nur daß dort die Mannigfaltigkeit durch
Harmonie bezwungen worden, hier erst kämpfend die
Harmonie zu erreichen sucht. Darin aber wird die
Harmonie niemals erreicht, daß ein Geist sein Ge¬
präge allen Geistern aufzudrücken sucht, daß er, und
geschieht es auch im besten Willen, von andern er¬
wartet, und andre dazu machen will, was er selber
ist, und darin besteht auch der größte Irrthum un¬
srer politischen Ideologen.

Mag ein Vater seinen Kindern die gleiche Er¬
ziehung geben, sie werden jedes etwas andres; könnte
selbst die Philosophie über eine Erziehung der Völ¬

einem hoͤhern Gut oder verlangen mehr von ihr, als
ſie beduͤrfen. Doch koͤnnen noch alle Anſpruͤche des
Geiſtes an die Natur in ihre Schranken gewieſen
werden; nur der Geiſt ſelbſt wird beſtaͤndig mit ſich
ſelber kaͤmpfen. Alle Menſchen koͤnnen an einem Tiſch
eſſen, ein Kleid tragen, ein Tagewerk vollbringen,
denn alle ſind am Koͤrper gleich, ihre Geiſter ſind
aber von Natur aus verſchieden und darauf beruht
der Kampf, ohne den das ganze Leben, dieſe ganze
Weltepoche, in der wir begriffen ſind, nichtig waͤre.

Die geiſtigen Vermoͤgen und Neigungen ſind un¬
gleich nicht nur an die Individuen, auch an die Voͤl¬
ker vertheilt. Überall auf der Erde leben Menſchen
und ſind den gleichen phyſiſchen Bedingungen unter¬
worfen, aber ihre Geiſter ſind ſo verſchieden, als die
Animaliſation und Vegetation, und der Geiſt wieder¬
holt auf einer hoͤhern Stufe, was die Natur auf der
niedern zeigt, nur daß dort die Mannigfaltigkeit durch
Harmonie bezwungen worden, hier erſt kaͤmpfend die
Harmonie zu erreichen ſucht. Darin aber wird die
Harmonie niemals erreicht, daß ein Geiſt ſein Ge¬
praͤge allen Geiſtern aufzudruͤcken ſucht, daß er, und
geſchieht es auch im beſten Willen, von andern er¬
wartet, und andre dazu machen will, was er ſelber
iſt, und darin beſteht auch der groͤßte Irrthum un¬
ſrer politiſchen Ideologen.

Mag ein Vater ſeinen Kindern die gleiche Er¬
ziehung geben, ſie werden jedes etwas andres; koͤnnte
ſelbſt die Philoſophie uͤber eine Erziehung der Voͤl¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0237" n="227"/>
einem ho&#x0364;hern Gut oder verlangen mehr von ihr, als<lb/>
&#x017F;ie bedu&#x0364;rfen. Doch ko&#x0364;nnen noch alle An&#x017F;pru&#x0364;che des<lb/>
Gei&#x017F;tes an die Natur in ihre Schranken gewie&#x017F;en<lb/>
werden; nur der Gei&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t wird be&#x017F;ta&#x0364;ndig mit &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elber ka&#x0364;mpfen. Alle Men&#x017F;chen ko&#x0364;nnen an einem Ti&#x017F;ch<lb/>
e&#x017F;&#x017F;en, ein Kleid tragen, ein Tagewerk vollbringen,<lb/>
denn alle &#x017F;ind am Ko&#x0364;rper gleich, ihre Gei&#x017F;ter &#x017F;ind<lb/>
aber von Natur aus ver&#x017F;chieden und darauf beruht<lb/>
der Kampf, ohne den das ganze Leben, die&#x017F;e ganze<lb/>
Weltepoche, in der wir begriffen &#x017F;ind, nichtig wa&#x0364;re.</p><lb/>
        <p>Die gei&#x017F;tigen Vermo&#x0364;gen und Neigungen &#x017F;ind un¬<lb/>
gleich nicht nur an die Individuen, auch an die Vo&#x0364;<lb/>
ker vertheilt. Überall auf der Erde leben Men&#x017F;chen<lb/>
und &#x017F;ind den gleichen phy&#x017F;i&#x017F;chen Bedingungen unter¬<lb/>
worfen, aber ihre Gei&#x017F;ter &#x017F;ind &#x017F;o ver&#x017F;chieden, als die<lb/>
Animali&#x017F;ation und Vegetation, und der Gei&#x017F;t wieder¬<lb/>
holt auf einer ho&#x0364;hern Stufe, was die Natur auf der<lb/>
niedern zeigt, nur daß dort die Mannigfaltigkeit durch<lb/>
Harmonie bezwungen worden, hier er&#x017F;t ka&#x0364;mpfend die<lb/>
Harmonie zu erreichen &#x017F;ucht. Darin aber wird die<lb/>
Harmonie niemals erreicht, daß ein Gei&#x017F;t &#x017F;ein Ge¬<lb/>
pra&#x0364;ge allen Gei&#x017F;tern aufzudru&#x0364;cken &#x017F;ucht, daß er, und<lb/>
ge&#x017F;chieht es auch im be&#x017F;ten Willen, von andern er¬<lb/>
wartet, und andre dazu machen will, was er &#x017F;elber<lb/>
i&#x017F;t, und darin be&#x017F;teht auch der gro&#x0364;ßte Irrthum un¬<lb/>
&#x017F;rer politi&#x017F;chen Ideologen.</p><lb/>
        <p>Mag ein Vater &#x017F;einen Kindern die gleiche Er¬<lb/>
ziehung geben, &#x017F;ie werden jedes etwas andres; ko&#x0364;nnte<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t die Philo&#x017F;ophie u&#x0364;ber eine Erziehung der Vo&#x0364;<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[227/0237] einem hoͤhern Gut oder verlangen mehr von ihr, als ſie beduͤrfen. Doch koͤnnen noch alle Anſpruͤche des Geiſtes an die Natur in ihre Schranken gewieſen werden; nur der Geiſt ſelbſt wird beſtaͤndig mit ſich ſelber kaͤmpfen. Alle Menſchen koͤnnen an einem Tiſch eſſen, ein Kleid tragen, ein Tagewerk vollbringen, denn alle ſind am Koͤrper gleich, ihre Geiſter ſind aber von Natur aus verſchieden und darauf beruht der Kampf, ohne den das ganze Leben, dieſe ganze Weltepoche, in der wir begriffen ſind, nichtig waͤre. Die geiſtigen Vermoͤgen und Neigungen ſind un¬ gleich nicht nur an die Individuen, auch an die Voͤl¬ ker vertheilt. Überall auf der Erde leben Menſchen und ſind den gleichen phyſiſchen Bedingungen unter¬ worfen, aber ihre Geiſter ſind ſo verſchieden, als die Animaliſation und Vegetation, und der Geiſt wieder¬ holt auf einer hoͤhern Stufe, was die Natur auf der niedern zeigt, nur daß dort die Mannigfaltigkeit durch Harmonie bezwungen worden, hier erſt kaͤmpfend die Harmonie zu erreichen ſucht. Darin aber wird die Harmonie niemals erreicht, daß ein Geiſt ſein Ge¬ praͤge allen Geiſtern aufzudruͤcken ſucht, daß er, und geſchieht es auch im beſten Willen, von andern er¬ wartet, und andre dazu machen will, was er ſelber iſt, und darin beſteht auch der groͤßte Irrthum un¬ ſrer politiſchen Ideologen. Mag ein Vater ſeinen Kindern die gleiche Er¬ ziehung geben, ſie werden jedes etwas andres; koͤnnte ſelbſt die Philoſophie uͤber eine Erziehung der Voͤl¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/237
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/237>, abgerufen am 18.05.2024.