Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.Winkel, wenn wir es nicht mehr gern haben oder Natürlich äußert sich die Vorliebe für fremde Li¬ Winkel, wenn wir es nicht mehr gern haben oder Natuͤrlich aͤußert ſich die Vorliebe fuͤr fremde Li¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0058" n="48"/> Winkel, wenn wir es nicht mehr gern haben oder<lb/> brauchen. Niemand iſt ſo ſklaviſch ergeben und nie¬<lb/> mand ſo undankbar, als wir. Niemand weiß den<lb/> eignen Werth ſo gruͤndlich zu verkennen, und nie¬<lb/> mand die eigne Schuld ſo leichtſinnig andern zuzu¬<lb/> ſchreiben, als wir. Wir hielten vor fuͤnfzig Jahren<lb/> die Franzoſen fuͤr eine Art von Halbgoͤttern, vor<lb/> zehn Jahren fuͤr halbe Teufel. Wir waren brutal<lb/> genug, vor ihnen zu kriechen, und noch brutaler, ſie<lb/> zu verachten. An die Stelle der Dummkoͤpfe, welche<lb/> den Saͤuglingen ſchon franzoͤſiſche Ammen, ja den<lb/> Muͤttern franzoͤſiſche Einquartirung gaben, traten an¬<lb/> dre Dummkoͤpfe, welche mit ſcythiſcher Dummdrei¬<lb/> ſtigkeit die edlen Bluͤthen franzoͤſiſcher Geſelligkeit nie¬<lb/> dertraten. Deutſche Politiker nahmen eine erbauliche<lb/> Miene an und predigten gegen den galliſchen Anti¬<lb/> chriſt, und einer oder der andre einfaͤltige Geſchicht¬<lb/> ſchreiber ſuchte ſogar ſich und andre zu beluͤgen, daß<lb/> die Franzoſen von unedlen aſiatiſchen Racen abſtamm¬<lb/> ten und die Ehre nicht verdienten, Europaͤer zu hei¬<lb/> ßen. Mit gleicher Barbarei verwerfen die Parteien<lb/> je die Abgoͤtterei der andern. Die Claſſiſchen ſchim¬<lb/> pfen gegen das Mittelalter und den Orient. Die<lb/> Romantiker kreuzigen ſich noch zuweilen vor den al¬<lb/> ten Heiden.</p><lb/> <p>Natuͤrlich aͤußert ſich die Vorliebe fuͤr fremde Li¬<lb/> teratur zunaͤchſt in <hi rendition="#g">Überſetzungen</hi>. Bekanntlich<lb/> wird in Deutſchland ungeheuer viel, ja voͤllig fabrik¬<lb/> maͤßig uͤberſetzt. Wenn je <choice><sic>nnter</sic><corr>unter</corr></choice> dreißig Werken des<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [48/0058]
Winkel, wenn wir es nicht mehr gern haben oder
brauchen. Niemand iſt ſo ſklaviſch ergeben und nie¬
mand ſo undankbar, als wir. Niemand weiß den
eignen Werth ſo gruͤndlich zu verkennen, und nie¬
mand die eigne Schuld ſo leichtſinnig andern zuzu¬
ſchreiben, als wir. Wir hielten vor fuͤnfzig Jahren
die Franzoſen fuͤr eine Art von Halbgoͤttern, vor
zehn Jahren fuͤr halbe Teufel. Wir waren brutal
genug, vor ihnen zu kriechen, und noch brutaler, ſie
zu verachten. An die Stelle der Dummkoͤpfe, welche
den Saͤuglingen ſchon franzoͤſiſche Ammen, ja den
Muͤttern franzoͤſiſche Einquartirung gaben, traten an¬
dre Dummkoͤpfe, welche mit ſcythiſcher Dummdrei¬
ſtigkeit die edlen Bluͤthen franzoͤſiſcher Geſelligkeit nie¬
dertraten. Deutſche Politiker nahmen eine erbauliche
Miene an und predigten gegen den galliſchen Anti¬
chriſt, und einer oder der andre einfaͤltige Geſchicht¬
ſchreiber ſuchte ſogar ſich und andre zu beluͤgen, daß
die Franzoſen von unedlen aſiatiſchen Racen abſtamm¬
ten und die Ehre nicht verdienten, Europaͤer zu hei¬
ßen. Mit gleicher Barbarei verwerfen die Parteien
je die Abgoͤtterei der andern. Die Claſſiſchen ſchim¬
pfen gegen das Mittelalter und den Orient. Die
Romantiker kreuzigen ſich noch zuweilen vor den al¬
ten Heiden.
Natuͤrlich aͤußert ſich die Vorliebe fuͤr fremde Li¬
teratur zunaͤchſt in Überſetzungen. Bekanntlich
wird in Deutſchland ungeheuer viel, ja voͤllig fabrik¬
maͤßig uͤberſetzt. Wenn je unter dreißig Werken des
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