Wurzel mit dem Erdgeruch; das Thier nicht ausge¬ stopft oder im Käfig, sondern in der Freiheit des Waldes und des Feldes, der Luft und der Gewässer; das Auge nicht im Ringe, sondern im schönen Ange¬ sicht; der Mensch nicht in der Einsamkeit des Stu¬ dierzimmers, sondern wie Adam unter den Kreatu¬ ren der ersten Schöpfungstage, wie Cäsar unter Men¬ schen, wie Christus im Himmel.
Über der Natur erhaben, aber nur wie die Blü¬ the über dem Stengel, und von dem gleichen Leben durchdrungen, erschien ihm die sittliche Welt. Dasselbe Werden und Entwickeln, nur auf höherer Stufe, galt ihm auch in dieser höhern Natur, und er sprach die große Ansicht aus, daß das Leben des einzelnen Menschen und das Leben der ganzen Menschheit glei¬ chen Gesetzen der Evolution unterworfen sey. Er stellte eine Vernunft der Menschheit der Vernunft des Menschen an die Seite. Jene von einer ewigen Vorsehung im Völkerleben unmittelbar gelenkt, diese dem Menschen als göttliches Erbtheil mitgegeben und nur Ausfluß, der höchsten einen Weltvernunft, stre¬ ben beide ineinander wirkend zu dem höchsten Ziel der Veredlung des menschlichen Geschlechts, zur Ver¬ schönerung des menschlichen Lebens. Dahin blühen alle Kräfte der Menschheit aus. Von diesem erhabe¬ nen Sinne geleitet, forschte Herder in den Tiefen der menschlichen Seele, verfolgte er die Entwicklung des Privatlebens, der Sitten, der Erziehung, der Staa¬ ten, der Religionen, der Wissenschaften und Künste,
Wurzel mit dem Erdgeruch; das Thier nicht ausge¬ ſtopft oder im Kaͤfig, ſondern in der Freiheit des Waldes und des Feldes, der Luft und der Gewaͤſſer; das Auge nicht im Ringe, ſondern im ſchoͤnen Ange¬ ſicht; der Menſch nicht in der Einſamkeit des Stu¬ dierzimmers, ſondern wie Adam unter den Kreatu¬ ren der erſten Schoͤpfungstage, wie Caͤſar unter Men¬ ſchen, wie Chriſtus im Himmel.
Über der Natur erhaben, aber nur wie die Bluͤ¬ the uͤber dem Stengel, und von dem gleichen Leben durchdrungen, erſchien ihm die ſittliche Welt. Daſſelbe Werden und Entwickeln, nur auf hoͤherer Stufe, galt ihm auch in dieſer hoͤhern Natur, und er ſprach die große Anſicht aus, daß das Leben des einzelnen Menſchen und das Leben der ganzen Menſchheit glei¬ chen Geſetzen der Evolution unterworfen ſey. Er ſtellte eine Vernunft der Menſchheit der Vernunft des Menſchen an die Seite. Jene von einer ewigen Vorſehung im Voͤlkerleben unmittelbar gelenkt, dieſe dem Menſchen als goͤttliches Erbtheil mitgegeben und nur Ausfluß, der hoͤchſten einen Weltvernunft, ſtre¬ ben beide ineinander wirkend zu dem hoͤchſten Ziel der Veredlung des menſchlichen Geſchlechts, zur Ver¬ ſchoͤnerung des menſchlichen Lebens. Dahin bluͤhen alle Kraͤfte der Menſchheit aus. Von dieſem erhabe¬ nen Sinne geleitet, forſchte Herder in den Tiefen der menſchlichen Seele, verfolgte er die Entwicklung des Privatlebens, der Sitten, der Erziehung, der Staa¬ ten, der Religionen, der Wiſſenſchaften und Kuͤnſte,
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Wurzel mit dem Erdgeruch; das Thier nicht ausge¬
ſtopft oder im Kaͤfig, ſondern in der Freiheit des
Waldes und des Feldes, der Luft und der Gewaͤſſer;
das Auge nicht im Ringe, ſondern im ſchoͤnen Ange¬
ſicht; der Menſch nicht in der Einſamkeit des Stu¬
dierzimmers, ſondern wie Adam unter den Kreatu¬
ren der erſten Schoͤpfungstage, wie Caͤſar unter Men¬
ſchen, wie Chriſtus im Himmel.
Über der Natur erhaben, aber nur wie die Bluͤ¬
the uͤber dem Stengel, und von dem gleichen Leben
durchdrungen, erſchien ihm die ſittliche Welt. Daſſelbe
Werden und Entwickeln, nur auf hoͤherer Stufe,
galt ihm auch in dieſer hoͤhern Natur, und er ſprach
die große Anſicht aus, daß das Leben des einzelnen
Menſchen und das Leben der ganzen Menſchheit glei¬
chen Geſetzen der Evolution unterworfen ſey. Er
ſtellte eine Vernunft der Menſchheit der Vernunft
des Menſchen an die Seite. Jene von einer ewigen
Vorſehung im Voͤlkerleben unmittelbar gelenkt, dieſe
dem Menſchen als goͤttliches Erbtheil mitgegeben und
nur Ausfluß, der hoͤchſten einen Weltvernunft, ſtre¬
ben beide ineinander wirkend zu dem hoͤchſten Ziel
der Veredlung des menſchlichen Geſchlechts, zur Ver¬
ſchoͤnerung des menſchlichen Lebens. Dahin bluͤhen
alle Kraͤfte der Menſchheit aus. Von dieſem erhabe¬
nen Sinne geleitet, forſchte Herder in den Tiefen der
menſchlichen Seele, verfolgte er die Entwicklung des
Privatlebens, der Sitten, der Erziehung, der Staa¬
ten, der Religionen, der Wiſſenſchaften und Kuͤnſte,
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/169>, abgerufen am 24.11.2024.
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