verfielen sie in die protestantische und moralische Nie¬ derländerei und die ersten modernen Romane, die sie einführten, waren sehr langweilig und pedantisch, wie die Zeit selbst, und noch unerträglicher durch den theologischen und moralischen Beischmack. Das Beispiel der Engländer feuerte auch die Deutschen an, Sittengemälde im Gewande der Zeit zu entwerfen, und namentlich setzte der Prediger Hermes der eng¬ lischen Clarissa seine preußische Sophie an die Seite. Auch auf die Bühne kamen Sittengemälde, die man Lustspiele nannte. Anfangs hatten diese modernen Dar¬ stellungen einen ganz moralischen Charakter und einen ganz englischen Zuschnitt. Nur dadurch verschafften sie sich Eingang. Nachdem man sich aber einmal an die Erscheinungen der alltäglichen Welt in Romanen und Schauspielen gewöhnt hatte, fand man bald Ge¬ fallen daran. Von den moralischen Gemälden gieng man sofort zu psychologischen über, wie man in der Philosophie den gleichen Weg nahm. Der Wolfischen Zeit gehörte noch der moralisirende Hermes an. Die psychologischen Romane und Schauspiele schlossen sich an die Kantische Periode.
Jene didaktische Poesie zerfällt also in eine mo¬ ralische und psychologische. Die moralische war die erste, hat sich aber auch noch bis auf heute fortge¬ pflanzt. Man hat lange darüber gestritten, ob nicht überhaupt die Poesie nur ein Mittel sey, die Sitt¬ lichkeit zu befördern, und man hat deßfalls in allem Ernst das Theater der Kanzel an die Seite gesetzt
verfielen ſie in die proteſtantiſche und moraliſche Nie¬ derlaͤnderei und die erſten modernen Romane, die ſie einfuͤhrten, waren ſehr langweilig und pedantiſch, wie die Zeit ſelbſt, und noch unertraͤglicher durch den theologiſchen und moraliſchen Beiſchmack. Das Beiſpiel der Englaͤnder feuerte auch die Deutſchen an, Sittengemaͤlde im Gewande der Zeit zu entwerfen, und namentlich ſetzte der Prediger Hermes der eng¬ liſchen Clariſſa ſeine preußiſche Sophie an die Seite. Auch auf die Buͤhne kamen Sittengemaͤlde, die man Luſtſpiele nannte. Anfangs hatten dieſe modernen Dar¬ ſtellungen einen ganz moraliſchen Charakter und einen ganz engliſchen Zuſchnitt. Nur dadurch verſchafften ſie ſich Eingang. Nachdem man ſich aber einmal an die Erſcheinungen der alltaͤglichen Welt in Romanen und Schauſpielen gewoͤhnt hatte, fand man bald Ge¬ fallen daran. Von den moraliſchen Gemaͤlden gieng man ſofort zu pſychologiſchen uͤber, wie man in der Philoſophie den gleichen Weg nahm. Der Wolfiſchen Zeit gehoͤrte noch der moraliſirende Hermes an. Die pſychologiſchen Romane und Schauſpiele ſchloſſen ſich an die Kantiſche Periode.
Jene didaktiſche Poeſie zerfaͤllt alſo in eine mo¬ raliſche und pſychologiſche. Die moraliſche war die erſte, hat ſich aber auch noch bis auf heute fortge¬ pflanzt. Man hat lange daruͤber geſtritten, ob nicht uͤberhaupt die Poeſie nur ein Mittel ſey, die Sitt¬ lichkeit zu befoͤrdern, und man hat deßfalls in allem Ernſt das Theater der Kanzel an die Seite geſetzt
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verfielen ſie in die proteſtantiſche und moraliſche Nie¬
derlaͤnderei und die erſten modernen Romane, die ſie
einfuͤhrten, waren ſehr langweilig und pedantiſch,
wie die Zeit ſelbſt, und noch unertraͤglicher durch
den theologiſchen und moraliſchen Beiſchmack. Das
Beiſpiel der Englaͤnder feuerte auch die Deutſchen an,
Sittengemaͤlde im Gewande der Zeit zu entwerfen,
und namentlich ſetzte der Prediger Hermes der eng¬
liſchen Clariſſa ſeine preußiſche Sophie an die Seite.
Auch auf die Buͤhne kamen Sittengemaͤlde, die man
Luſtſpiele nannte. Anfangs hatten dieſe modernen Dar¬
ſtellungen einen ganz moraliſchen Charakter und einen
ganz engliſchen Zuſchnitt. Nur dadurch verſchafften
ſie ſich Eingang. Nachdem man ſich aber einmal an
die Erſcheinungen der alltaͤglichen Welt in Romanen
und Schauſpielen gewoͤhnt hatte, fand man bald Ge¬
fallen daran. Von den moraliſchen Gemaͤlden gieng
man ſofort zu pſychologiſchen uͤber, wie man in der
Philoſophie den gleichen Weg nahm. Der Wolfiſchen
Zeit gehoͤrte noch der moraliſirende Hermes an. Die
pſychologiſchen Romane und Schauſpiele ſchloſſen ſich
an die Kantiſche Periode.
Jene didaktiſche Poeſie zerfaͤllt alſo in eine mo¬
raliſche und pſychologiſche. Die moraliſche war die
erſte, hat ſich aber auch noch bis auf heute fortge¬
pflanzt. Man hat lange daruͤber geſtritten, ob nicht
uͤberhaupt die Poeſie nur ein Mittel ſey, die Sitt¬
lichkeit zu befoͤrdern, und man hat deßfalls in allem
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/201>, abgerufen am 16.02.2025.
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