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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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gen in andern Personificationen. Sie sind unter den
Romanen, was die Lehrgedichte unter den Liedern.
Daß sie in der neuern Zeit überhand nehmen, scheint
denselben Grund zu haben, aus welchen die histori¬
schen Romane oder die romanisirten Historien in Wal¬
ter Scotts Geschmack so sehr um sich greifen. Man
hat sich ein wenig am Thema der Liebe erschöpft,
man denkt an ernstere Dinge, die Form des Romans
bietet sich aber auch dafür als sehr annehmlich dar.
Die philosophischen Romane von Bauterweck, Fries
und andern, meist Kantianern, leiden an einem ge¬
wissen Etwas Mangel, das ich nicht deutlicher als
mit der attischen Grazie und mit den Namen Wie¬
land und Lucian bezeichnen mag. Die theologischen
Romame, z. B. Wahl und Führung, machen mit der
theologischen Polemik wahrlich noch weniger Glück,
als jene mit der philosophischen, und nur wenn sie,
wie der famöse Sebaldus Nothanker, zugleich ein psy¬
chologisches und historisches Interesse gewähren, mö¬
gen wir sie mit Vergnügen lesen. Die politischen
Romane sind etwas, das der wahren Politik und dem
wahren Roman widerstrebt, denn entweder geht die
Politik im Ehebett, oder die Liebe auf der Tribune
unter. Die pädagogischen Romane sind interessant,
wenn sie psychologisch sind. Unstreitig aber sind die
ästhetischen Romane die passendsten, theils weil es fast
immer nur wirkliche Dichter sind, die in dieser Form
dichten, theils weil der Gegenstand, sey es nun die
Kunst als solche, oder der Künstler und sein Leben

gen in andern Perſonificationen. Sie ſind unter den
Romanen, was die Lehrgedichte unter den Liedern.
Daß ſie in der neuern Zeit uͤberhand nehmen, ſcheint
denſelben Grund zu haben, aus welchen die hiſtori¬
ſchen Romane oder die romaniſirten Hiſtorien in Wal¬
ter Scotts Geſchmack ſo ſehr um ſich greifen. Man
hat ſich ein wenig am Thema der Liebe erſchoͤpft,
man denkt an ernſtere Dinge, die Form des Romans
bietet ſich aber auch dafuͤr als ſehr annehmlich dar.
Die philoſophiſchen Romane von Bauterweck, Fries
und andern, meiſt Kantianern, leiden an einem ge¬
wiſſen Etwas Mangel, das ich nicht deutlicher als
mit der attiſchen Grazie und mit den Namen Wie¬
land und Lucian bezeichnen mag. Die theologiſchen
Romame, z. B. Wahl und Fuͤhrung, machen mit der
theologiſchen Polemik wahrlich noch weniger Gluͤck,
als jene mit der philoſophiſchen, und nur wenn ſie,
wie der famoͤſe Sebaldus Nothanker, zugleich ein pſy¬
chologiſches und hiſtoriſches Intereſſe gewaͤhren, moͤ¬
gen wir ſie mit Vergnuͤgen leſen. Die politiſchen
Romane ſind etwas, das der wahren Politik und dem
wahren Roman widerſtrebt, denn entweder geht die
Politik im Ehebett, oder die Liebe auf der Tribune
unter. Die paͤdagogiſchen Romane ſind intereſſant,
wenn ſie pſychologiſch ſind. Unſtreitig aber ſind die
aͤſthetiſchen Romane die paſſendſten, theils weil es faſt
immer nur wirkliche Dichter ſind, die in dieſer Form
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Kunſt als ſolche, oder der Kuͤnſtler und ſein Leben

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[285/0295] gen in andern Perſonificationen. Sie ſind unter den Romanen, was die Lehrgedichte unter den Liedern. Daß ſie in der neuern Zeit uͤberhand nehmen, ſcheint denſelben Grund zu haben, aus welchen die hiſtori¬ ſchen Romane oder die romaniſirten Hiſtorien in Wal¬ ter Scotts Geſchmack ſo ſehr um ſich greifen. Man hat ſich ein wenig am Thema der Liebe erſchoͤpft, man denkt an ernſtere Dinge, die Form des Romans bietet ſich aber auch dafuͤr als ſehr annehmlich dar. Die philoſophiſchen Romane von Bauterweck, Fries und andern, meiſt Kantianern, leiden an einem ge¬ wiſſen Etwas Mangel, das ich nicht deutlicher als mit der attiſchen Grazie und mit den Namen Wie¬ land und Lucian bezeichnen mag. Die theologiſchen Romame, z. B. Wahl und Fuͤhrung, machen mit der theologiſchen Polemik wahrlich noch weniger Gluͤck, als jene mit der philoſophiſchen, und nur wenn ſie, wie der famoͤſe Sebaldus Nothanker, zugleich ein pſy¬ chologiſches und hiſtoriſches Intereſſe gewaͤhren, moͤ¬ gen wir ſie mit Vergnuͤgen leſen. Die politiſchen Romane ſind etwas, das der wahren Politik und dem wahren Roman widerſtrebt, denn entweder geht die Politik im Ehebett, oder die Liebe auf der Tribune unter. Die paͤdagogiſchen Romane ſind intereſſant, wenn ſie pſychologiſch ſind. Unſtreitig aber ſind die aͤſthetiſchen Romane die paſſendſten, theils weil es faſt immer nur wirkliche Dichter ſind, die in dieſer Form dichten, theils weil der Gegenſtand, ſey es nun die Kunſt als ſolche, oder der Kuͤnſtler und ſein Leben

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/295>, abgerufen am 26.11.2024.