Die Empiriker und Philosophen haben sich wech¬ selseitig und sehr zur Unehre der Wissenschaft aufs Bitterste angefeindet. Beide haben einander die gröb¬ sten Irrthümer vorgeworfen, und nicht mit Unrecht. Blind heißt der Empiriker, ein Visionair der Philo¬ soph. Jener sieht nichts, was er nicht mit Händen greifen kann, dieser glaubt zu greifen, was er nicht einmal sehen kann.
Der Empiriker begeht auf einem scheinbar sehr sichern Boden doch so grobe Fehler, als immer der Phi¬ losoph. Auch er muß oft erklären, was sich nicht ge¬ rade von selbst versteht, und für bekannte Erschei¬ nungen die unbekannten Ursachen suchen. Dann steht er aber gewöhnlich hinter dem Philosophen weit zu¬ rück, weil es ihm gar nicht darauf ankommt, die eine Erscheinung im Zusammenhang mit allen andern zu begreifen, sondern weil er nur für den einen Fall nach der ersten besten Wahrscheinlichkeit greift. Man könnte ein ganzes Buch voll der albernsten Erklärun¬ gen solcher Empiriker sammeln, und es den Eulen¬ spiegel der Naturforscher tituliren. Statt hunderten möge hier nur eine stehn, die aber sehr geeignet ist, das ganze Verfahren zu charakterisiren. Viele, fast alle und selbst sehr berühmte Empiriker erklären das Entstehn der Vegetation auf eben erst über das Meer erhobenen Coralleninseln oder überhaupt an Orten, wo sich kein Same dazu vorfindet, beständig dadurch, daß Winde oder Vögel, viele hundert Meilen weit den Samen dazu herbeigetragen hätten, und dies
Die Empiriker und Philoſophen haben ſich wech¬ ſelſeitig und ſehr zur Unehre der Wiſſenſchaft aufs Bitterſte angefeindet. Beide haben einander die groͤb¬ ſten Irrthuͤmer vorgeworfen, und nicht mit Unrecht. Blind heißt der Empiriker, ein Viſionair der Philo¬ ſoph. Jener ſieht nichts, was er nicht mit Haͤnden greifen kann, dieſer glaubt zu greifen, was er nicht einmal ſehen kann.
Der Empiriker begeht auf einem ſcheinbar ſehr ſichern Boden doch ſo grobe Fehler, als immer der Phi¬ loſoph. Auch er muß oft erklaͤren, was ſich nicht ge¬ rade von ſelbſt verſteht, und fuͤr bekannte Erſchei¬ nungen die unbekannten Urſachen ſuchen. Dann ſteht er aber gewoͤhnlich hinter dem Philoſophen weit zu¬ ruͤck, weil es ihm gar nicht darauf ankommt, die eine Erſcheinung im Zuſammenhang mit allen andern zu begreifen, ſondern weil er nur fuͤr den einen Fall nach der erſten beſten Wahrſcheinlichkeit greift. Man koͤnnte ein ganzes Buch voll der albernſten Erklaͤrun¬ gen ſolcher Empiriker ſammeln, und es den Eulen¬ ſpiegel der Naturforſcher tituliren. Statt hunderten moͤge hier nur eine ſtehn, die aber ſehr geeignet iſt, das ganze Verfahren zu charakteriſiren. Viele, faſt alle und ſelbſt ſehr beruͤhmte Empiriker erklaͤren das Entſtehn der Vegetation auf eben erſt uͤber das Meer erhobenen Coralleninſeln oder uͤberhaupt an Orten, wo ſich kein Same dazu vorfindet, beſtaͤndig dadurch, daß Winde oder Voͤgel, viele hundert Meilen weit den Samen dazu herbeigetragen haͤtten, und dies
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0030"n="20"/><p>Die Empiriker und Philoſophen haben ſich wech¬<lb/>ſelſeitig und ſehr zur Unehre der Wiſſenſchaft aufs<lb/>
Bitterſte angefeindet. Beide haben einander die groͤb¬<lb/>ſten Irrthuͤmer vorgeworfen, und nicht mit Unrecht.<lb/>
Blind heißt der Empiriker, ein Viſionair der Philo¬<lb/>ſoph. Jener ſieht nichts, was er nicht mit Haͤnden<lb/>
greifen kann, dieſer glaubt zu greifen, was er nicht<lb/>
einmal ſehen kann.</p><lb/><p>Der Empiriker begeht auf einem ſcheinbar ſehr<lb/>ſichern Boden doch ſo grobe Fehler, als immer der Phi¬<lb/>
loſoph. Auch er <hirendition="#g">muß</hi> oft erklaͤren, was ſich nicht ge¬<lb/>
rade von ſelbſt verſteht, und fuͤr bekannte Erſchei¬<lb/>
nungen die unbekannten Urſachen ſuchen. Dann ſteht<lb/>
er aber gewoͤhnlich hinter dem Philoſophen weit zu¬<lb/>
ruͤck, weil es ihm gar nicht darauf ankommt, die<lb/>
eine Erſcheinung im Zuſammenhang mit allen andern<lb/>
zu begreifen, ſondern weil er nur fuͤr den einen Fall<lb/>
nach der erſten beſten Wahrſcheinlichkeit greift. Man<lb/>
koͤnnte ein ganzes Buch voll der albernſten Erklaͤrun¬<lb/>
gen ſolcher Empiriker ſammeln, und es den Eulen¬<lb/>ſpiegel der Naturforſcher tituliren. Statt hunderten<lb/>
moͤge hier nur eine ſtehn, die aber ſehr geeignet iſt,<lb/>
das ganze Verfahren zu charakteriſiren. Viele, faſt<lb/>
alle und ſelbſt ſehr beruͤhmte Empiriker erklaͤren das<lb/>
Entſtehn der Vegetation auf eben erſt uͤber das Meer<lb/>
erhobenen Coralleninſeln oder uͤberhaupt an Orten,<lb/>
wo ſich kein Same dazu vorfindet, beſtaͤndig dadurch,<lb/>
daß Winde oder Voͤgel, viele hundert Meilen weit<lb/>
den Samen dazu herbeigetragen haͤtten, und dies<lb/></p></div></body></text></TEI>
[20/0030]
Die Empiriker und Philoſophen haben ſich wech¬
ſelſeitig und ſehr zur Unehre der Wiſſenſchaft aufs
Bitterſte angefeindet. Beide haben einander die groͤb¬
ſten Irrthuͤmer vorgeworfen, und nicht mit Unrecht.
Blind heißt der Empiriker, ein Viſionair der Philo¬
ſoph. Jener ſieht nichts, was er nicht mit Haͤnden
greifen kann, dieſer glaubt zu greifen, was er nicht
einmal ſehen kann.
Der Empiriker begeht auf einem ſcheinbar ſehr
ſichern Boden doch ſo grobe Fehler, als immer der Phi¬
loſoph. Auch er muß oft erklaͤren, was ſich nicht ge¬
rade von ſelbſt verſteht, und fuͤr bekannte Erſchei¬
nungen die unbekannten Urſachen ſuchen. Dann ſteht
er aber gewoͤhnlich hinter dem Philoſophen weit zu¬
ruͤck, weil es ihm gar nicht darauf ankommt, die
eine Erſcheinung im Zuſammenhang mit allen andern
zu begreifen, ſondern weil er nur fuͤr den einen Fall
nach der erſten beſten Wahrſcheinlichkeit greift. Man
koͤnnte ein ganzes Buch voll der albernſten Erklaͤrun¬
gen ſolcher Empiriker ſammeln, und es den Eulen¬
ſpiegel der Naturforſcher tituliren. Statt hunderten
moͤge hier nur eine ſtehn, die aber ſehr geeignet iſt,
das ganze Verfahren zu charakteriſiren. Viele, faſt
alle und ſelbſt ſehr beruͤhmte Empiriker erklaͤren das
Entſtehn der Vegetation auf eben erſt uͤber das Meer
erhobenen Coralleninſeln oder uͤberhaupt an Orten,
wo ſich kein Same dazu vorfindet, beſtaͤndig dadurch,
daß Winde oder Voͤgel, viele hundert Meilen weit
den Samen dazu herbeigetragen haͤtten, und dies
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/30>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.