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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

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höhe überragte. Seinem braunen Antlitz gaben die
düstern Brauen und der keimende Bart einen fast
männlichen Ausdruck und seine kräftigen Handgelenke
ragten weit vor aus den engen Aermeln des dürftigen
Wamses, dem er längst entwachsen war. Beim Eintreten
der Kleinen überflog eine dunkle Schamröthe seine breit
ausgeprägte Stirn. Er behielt eine ernste Haltung,
aber seine Augen lachten.

Jetzt stand das Mädchen vor ihm, umschlang den
Sitzenden mit beiden Armen und küßte ihn herzlich auf
den Mund. "Ich habe gehört, daß Du hungerst, Jürg,"
sagte sie, "und bringe Dir etwas . . . Von unserm
gedörrten Fleische, das Du so gerne issest!" fügte sie
heimlich hinzu.

Ein unermeßliches Gelächter durchdröhnte die Schul¬
stube, das Semmlers gebieterisch erhobene Rechte lange
nicht beschwichtigen konnte. Die Augen des Mädchens
blickten befremdet und überquollen dann von schweren
Thränen des Unmuths und der Scham, während sie
Jenatsch fest bei der Hand faßte, als fände sie bei ihm
allein Schutz und Hilfe.

Jetzt endlich brach sich die strafende Stimme des
Magisters Bahn: "Was ist da zu lachen, ihr Esel?
-- Ein naiver Zug, sag' ich euch! Rein griechisch!
euer Gebahren ist eben so einfältig, als wenn ihr

Meyer, Georg Jenatsch. 2

höhe überragte. Seinem braunen Antlitz gaben die
düſtern Brauen und der keimende Bart einen faſt
männlichen Ausdruck und ſeine kräftigen Handgelenke
ragten weit vor aus den engen Aermeln des dürftigen
Wamſes, dem er längſt entwachſen war. Beim Eintreten
der Kleinen überflog eine dunkle Schamröthe ſeine breit
ausgeprägte Stirn. Er behielt eine ernſte Haltung,
aber ſeine Augen lachten.

Jetzt ſtand das Mädchen vor ihm, umſchlang den
Sitzenden mit beiden Armen und küßte ihn herzlich auf
den Mund. „Ich habe gehört, daß Du hungerſt, Jürg,“
ſagte ſie, „und bringe Dir etwas . . . Von unſerm
gedörrten Fleiſche, das Du ſo gerne iſſeſt!“ fügte ſie
heimlich hinzu.

Ein unermeßliches Gelächter durchdröhnte die Schul¬
ſtube, das Semmlers gebieteriſch erhobene Rechte lange
nicht beſchwichtigen konnte. Die Augen des Mädchens
blickten befremdet und überquollen dann von ſchweren
Thränen des Unmuths und der Scham, während ſie
Jenatſch feſt bei der Hand faßte, als fände ſie bei ihm
allein Schutz und Hilfe.

Jetzt endlich brach ſich die ſtrafende Stimme des
Magiſters Bahn: „Was iſt da zu lachen, ihr Eſel?
— Ein naiver Zug, ſag' ich euch! Rein griechiſch!
euer Gebahren iſt eben ſo einfältig, als wenn ihr

Meyer, Georg Jenatſch. 2
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[17/0027] höhe überragte. Seinem braunen Antlitz gaben die düſtern Brauen und der keimende Bart einen faſt männlichen Ausdruck und ſeine kräftigen Handgelenke ragten weit vor aus den engen Aermeln des dürftigen Wamſes, dem er längſt entwachſen war. Beim Eintreten der Kleinen überflog eine dunkle Schamröthe ſeine breit ausgeprägte Stirn. Er behielt eine ernſte Haltung, aber ſeine Augen lachten. Jetzt ſtand das Mädchen vor ihm, umſchlang den Sitzenden mit beiden Armen und küßte ihn herzlich auf den Mund. „Ich habe gehört, daß Du hungerſt, Jürg,“ ſagte ſie, „und bringe Dir etwas . . . Von unſerm gedörrten Fleiſche, das Du ſo gerne iſſeſt!“ fügte ſie heimlich hinzu. Ein unermeßliches Gelächter durchdröhnte die Schul¬ ſtube, das Semmlers gebieteriſch erhobene Rechte lange nicht beſchwichtigen konnte. Die Augen des Mädchens blickten befremdet und überquollen dann von ſchweren Thränen des Unmuths und der Scham, während ſie Jenatſch feſt bei der Hand faßte, als fände ſie bei ihm allein Schutz und Hilfe. Jetzt endlich brach ſich die ſtrafende Stimme des Magiſters Bahn: „Was iſt da zu lachen, ihr Eſel? — Ein naiver Zug, ſag' ich euch! Rein griechiſch! euer Gebahren iſt eben ſo einfältig, als wenn ihr Meyer, Georg Jenatſch. 2

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/27>, abgerufen am 21.11.2024.